Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
schrak sie auf. Ihre Trägheit verflog auf einen Schlag.
    »Das ist doch nicht…«, begann sie, vergaß aber, den Satz zu beenden. Dann, nach einem Moment, fragte sie: »Siehst du das auch?«
    »Ich blicke durch deine Augen, Merle. Natürlich kann ich ihn sehen.«
    Zwischen den Lippen des zweiten Schädels kauerte ein Mensch.
    Er hockte hinter der Unterlippe und lag mit dem Oberkörper und ausgestreckten Armen über dem Stein, scheinbar leblos, so als hätte ihn der gewaltige Schädel zur Hälfte verschlungen und dann vergessen, auch den Rest herunterzuschlucken. Seine Arme pendelten hin und her, sein Kopf lag auf der Seite, das Gesicht von ihnen abgewandt. Er hatte sehr langes, schneeweißes Haar, und Merle hätte ihn für eine Frau gehalten, hätte er nicht mit einem Mal den Kopf umgewandt und zu ihr herübergesehen. Zwischen seinen weißen Strähnen, die wie frisch gefallener Schnee seine Züge bedeckten, blickte er sie an. Selbst auf diese Distanz konnte sie erkennen, wie schmal und ausgezehrt sein Gesicht wirkte. Seine Haut hatte kaum mehr Farbe als sein Haar, war so blass wie die einer Leiche.
    »Er stirbt«, sagte die Fließende Königin.
    »Und dabei sollen wir einfach zuschauen?«
    »Wir kommen nicht an ihn heran.«
    Merle überlegte, dann fasste sie einen Entschluss. »Vielleicht doch.«
    Sie sprang zurück ins Ohr, rüttelte Vermithrax wach und zerrte den müden, schlecht gelaunten Löwen mit sich zum Rand der steinernen Muschel. Der weiße Mann hatte das Gesicht jetzt wieder abgewandt und hing über der Lippe des Schädels wie ein Toter.
    »Können wir dort rüberkommen?« Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie ein Nein nicht akzeptieren würde.
    »Hmm«, machte Vermithrax düster.
    »Was soll das heißen… hmm?« Merle schnappte aufgeregt nach Luft, ruderte mit den Armen und gestikulierte wild. »Wir dürfen ihn da drüben nicht einfach sterben lassen. Er braucht unsere Hilfe, das sieht man doch.«
    Vermithrax knurrte etwas Unverständliches, und als Merle immer aufgebrachter mit den Händen fuchtelte, wortreich an sein Gewissen appellierte und schließlich sogar »Bitte« sagte, murmelte er: »Er könnte eine Gefahr bedeuten.«
    »Aber er ist ein Mensch!«
    »Oder etwas, das aussieht wie einer«, sagte die Königin mit Merles Stimme.
    Merle war viel zu aufgeregt, um sie wegen dieses erneuten Verstoßes gegen ihre Abmachung zurechtzuweisen. »Auf jeden Fall können wir nicht einfach hier sitzen bleiben und zuschauen.« Betonter fügte sie hinzu: »Können wir doch nicht, oder?«
    Die Königin hüllte sich in Schweigen, was in gewisser Weise auch eine Antwort war, aber Vermithrax erwiderte: »Nein, wahrscheinlich nicht.«
    Merle atmete auf. »Du willst es versuchen?«
    »Was versuchen?«, fragte die Königin, aber diesmal ignorierte Merle sie einfach.
    Vermithrax blickte nachdenklich vom Rand der Ohrmuschel über den Abgrund hinweg zum zweiten Steinschädel. »Der Kopf fliegt nicht genau hinter uns, sondern schräg. Das macht es schwieriger. Aber, vielleicht… hm, wenn ich mich stark genug abstoße und dabei weit genug hinauskomme und mich dann einfach zurückfallen lasse, dann könnte ich mich wahrscheinlich wieder an ihm festklammern und -«
    »Einfach! Hast du eben , einfach’ gesagt?«, fragte die Königin durch Merles Mund.
    Lass das!, dachte Merle.
    »Aber es ist Wahnsinn. Wir wissen nicht, wer oder was er ist und warum er so zugerichtet ist.«
    »Wenn wir hier rumsitzen, werden wir es auch niemals erfahren.«
    »Vielleicht wäre das besser.« Aber der Ton der Königin verriet, dass sie ihre Niederlage bereits akzeptiert hatte. Sie war eine faire Verliererin - vielleicht auch eine beleidigte - und verfiel abermals in Schweigen.
    »Es wird schwierig«, sagte Vermithrax.
    »Ja.« Als ob Merle das nicht wüsste.
    »Ich kann nicht einfach in der Luft stehen bleiben, bis sein Gesicht mich rammt - das würde mich umbringen. Ich kann nur wieder versuchen, seitlich aufzuspringen, am Ohr oder irgendwo am Haar. Und dann müsste ich von dort aus um den Kopf herumklettern, um den Mahn zu erreichen.«
    Merle holte tief Luft. »Das kann ich machen.«
    »Du?«
    »Sicher.«
    »Aber du hast keine Krallen.«
    »Dafür bin ich leichter. Und flinker. Und kann mich an den kleinsten Unebenheiten festhalten.« Daran glaubte sie zwar selbst nicht recht, aber irgendwie, fand sie, klang das einleuchtend.
    »Kein guter Plan«, sagte Vermithrax unbeeindruckt.
    »Bring mich einfach rüber, den Rest erledige ich. Ich hab’s

Weitere Kostenlose Bücher