Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Entscheidung.«
»Allerdings.« Sie ahnte, dass die Königin sie zwingen konnte, hier zu bleiben, indem sie nicht nur die Kontrolle über ihre Zunge, sondern über ihren ganzen Körper ergriff. Doch das tat sie nicht. Sie respektierte Merles Vorhaben, auch wenn sie es nicht billigte.
Ohne irgendwelche Worte des Abschieds - denn sie weigerte sich, an das Wort Abschied auch nur zu denken - kletterte sie an die Außenseite des Ohrs. Der Stein war grobporig, voller Kerben und Risse. Manche mochten von Natur aus zur Struktur des Gesteins gehören, andere stammten eindeutig von Zusammenstößen mit… ja, womit? Fliegenden Steinen? Lilimkrallen? Vogelschnäbeln, so hart wie Stahl?
Du willst das nicht wissen. Nicht wirklich. Lass dich nicht ablenken.
Der schnellste Weg zum Mundwinkel des Steinschädels führte quer über seine eingefallene Wange, eine tiefe Höhlung unterhalb des vorstehenden Wangenknochens. Sie fragte sich, ob das Gesicht wohl einem bestimmten Menschen nachgebildet war. Falls ja, war er entweder alt oder unterernährt. Niemand, den sie kannte, hatte so tiefe Wangen, nicht einmal die hungrigen Kinder im Waisenhaus.
»Schau nicht nach unten«, sagte die Fließende Königin.
»Ich geb mir alle Mühe.«
Ihre Hände und Füße suchten Halt und fanden ihn erstaunlich schnell. Im Grunde war es nicht halb so schwierig, wie sie angenommen hatte. Sie hielt sich, so gut es ging, an den Rat der Königin und richtete ihren Blick fest auf die Steinwand. Manchmal, wenn sie Acht geben musste, dass sie ihre Füße auf sichere Vorsprünge setzte, konnte sie nicht umhin, einen kleinen Ausschnitt des vorbeirasenden Bodens zu sehen, endlos tief unter ihr. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und ihr Magen ballte sich zu einem knotigen Etwas zusammen, das wie ein Stein auf ihren Eingeweiden lag.
Einer ihrer Fingernägel brach ab, als sie die rechte Hand in die nächste Kerbe schob. Sie mochte schon mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, aber sicher sein konnte sie nicht. Solange sie nur auf den Stein vor sich starrte, fehlten ihr die Relationen. Was, wenn sie erst ein paar Meter geschafft hatte? Viel weniger, als sie glaubte?
Weiter. Immer weiter.
Nur noch ein kleines Stück.
Ganz langsam wandte sie den Kopf und blickte an der Felswand entlang. Der Mundwinkel war nicht mehr weit entfernt. Wenn sie es nur schaffte, sich über die steinerne Unterlippe zu ziehen, war sie vorerst in Sicherheit.
Vorausgesetzt, der Mann im Mund war ihr so freundlich gesinnt wie sie ihm.
Und wenn er nicht so schwach war, wie er aussah?
Wenn er sie angriff?
Sie schüttelte den Gedanken ab, konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Hände und Füße.
Doch sosehr sie es auch verdrängen wollte, konnte sie doch nicht umhin, sich ihre Lage vor Augen zu führen: Sie hing an der Seite eines fünfzig Meter hohen Steinschädels, hoch über der Felswüste, und dieser Schädel bewegte sich mit einer solchen Wahnsinnsgeschwindigkeit vorwärts, dass die Landschaft unter ihr zu einem einzigen Wirbel verschwamm.
Und das alles für einen Fremden, über den sie nichts wusste. Er mochte gefährlich sein, ein Mörder sogar, ein treuer Sklave Lord Lichts vielleicht. Trotzdem setzte sie für ihn ihr Leben aufs Spiel. Und nicht nur ihr eigenes. Denn wenn sie der Königin Glauben schenkte, hing von ihr das Schicksal Venedigs ab.
Die Erkenntnis traf sie unvorbereitet, und einen Moment lang verlor sie den Halt. Ihre linke Hand rutschte ab, nur ihre rechte klammerte sich weiter um einen steinernen Sockel, der so schmal war, dass nicht einmal ein Blumentopf darauf Platz gefunden hätte. Sie bekam Panik und begann zu strampeln. Ihre Füße glitten über den Rand einer Kerbe, und dann hing sie einen Augenblick lang frei über dem Abgrund.
»Das war’s«, sagte die Fließende Königin trocken.
Merle spannte ihre Muskeln - und zog sich ein Stück weit nach oben. Bekam mit der Linken wieder einen Vorsprung zu fassen, fand Halt unter ihren Füßen. Und schob sich weiter.
»Nicht schlecht.«
»Vielen Dank für deine Unterstützung«, presste Merle zwischen den Lippen hervor.
Ein paar Meter weiter, dann erreichte sie den Mundwinkel.
» Gleich hast du’s geschafft.«
»Das klingt, als hättest du nicht damit gerechnet.«
» Glaubst du wirklich, dann hätte ich dich gehen lassen?«
Womit sie indirekt Merles Befürchtung bestätigte: Die Königin konnte Merles Körper in ihre Gewalt bringen, wenn sie es wollte. Das war kein schöner Gedanke, aber auch
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