Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
»Was also willst du?«
»Die Sphinxe sind der Meinung, jene Macht, die Uns gefährlich werden könnte, wäre nicht von dieser Welt. Zumindest nicht von der Oberfläche.«
»Die Hölle?«
»In der Tat. Die Weissagung der Sphinxe sieht voraus, dass etwas aus der Hölle kommen und Uns vernichten wird. Ist das nicht ganz zauberhaft?« Er lachte wieder, aber diesmal klang es nicht mehr ganz so überheblich. »Und wer herrscht über die Hölle?«
»Lord Licht.«
»Dieser Aussatz! Dieser Schmutz! Aber, ja - Lord Licht. Er hat schon versucht, die Venezianer gegen Uns aufzuwiegeln. Unsere ehrwürdigen Verräter konnten das verhindern, indem sie Befehl gaben, den Höllenboten zu töten. Doch Lord Licht wird keine Ruhe geben, Wir wissen das, und die Prophezeiung der Sphinxe bestätigt es.« Seine Augen verengten sich. »Andererseits - Wir werden nicht sterben, Seth. Ganz gleich, was Lord Licht gegen uns im Schilde führt - er wird Uns nicht besiegen. Weil Wir das Übel an der Wurzel packen werden.«
Jetzt war es an Seth zu lachen. Tatsächlich lachte er so laut und schallend, dass Amenophis ihn ansah, als zweifle er am Verstand des Hohepriesters.
»Du willst Lord Licht töten?«, stieß Seth hervor. Seine Stimme klang zu hoch, und er musste dringend Luft holen. »Ist das dein Ernst?«
»Ja - und nein. Weil du ihn töten wirst, Seth. Nicht Wir.« »Das ist Selbstmord!«
»Das liegt bei dir.«
Seth schüttelte den Kopf. Er hatte einiges erwartet, aber nicht das.
Sein Blick wanderte zu den beiden Sphinxen. Sie mussten wissen, welch ein Wahnsinn dieses Vorhaben war. Falls es ihnen nur darum ging, ihn aus dem Weg zu räumen, warum machten sie dieser Farce dann nicht mit ihren Schwertern ein Ende?
Die Antwort gab er sich selbst, und sie verstörte ihn zutiefst: Weil sie an das glaubten, was der Pharao sagte. Amenophis hatte nicht gelogen. Die Vision war keine Erfindung. Die Sphinxe fürchteten Lord Licht.
Seth beherrschte sich und fragte: »Was genau haben die Sphinxe gesehen?«
»Nichts«, sagte einer der beiden und ergriff damit das erste Mal ungebeten das Wort. Amenophis ließ es geschehen, ohne den Sphinx zurechtzuweisen.
»Nichts?«
»Unsere Visionen erreichen uns nicht in Form von Bildern«, sagte der Sphinx mit großem Ernst. »Es sind Gefühle. Eindrücke. Zu verschlüsselt, um konkrete Hinweise zu geben.«
Seth lachte abermals auf, eine Spur zu schrill. »Einer von euch hat ein… schlechtes Gefühl, und deshalb wollt ihr Lord Licht töten? Einen Krieg mit der Hölle riskieren?« Er ging erregt einige Schritte auf und ab, blieb dann wieder stehen. »Das ist vollkommener Wahnsinn!«
Der Sphinx ignorierte seine letzten Worte. »Etwas wird aus der Hölle kommen und den Pharao vernichten. Das ist die Prophezeiung. Und du wirst verhindern, dass sie wahr wird.«
Der Pharao machte eine Handbewegung. Hinter einer Öffnung in der Wandtäfelung raschelte etwas, jemand huschte vorbei. Wenig später ertönte ein knappes Trompetensignal.
Seth wirbelte zum Fenster herum und sah, wie sich die Mumienkrieger mit erhobenen Sichelschwertern den zusammengepferchten Priestern näherten.
»Hör auf damit!« Seths Stimme klang tonlos.
Ein zweites Handsignal, ein erneutes Trompeten. Die Krieger erstarrten in ihrer Bewegung.
Einige Herzschläge lang war es totenstill, selbst unten auf dem Platz schien alles zu verstummen.
»Ich tue, was du verlangst«, sagte Seth.
»Das wissen Wir.« Der Pharao lächelte liebenswürdig. »Wir hatten nie einen Zweifel daran. Diese Priester sind wie deine eigenen Kinder.«
»Ein Hohepriester steht zu seiner Verantwortung. Das sollte auch ein Pharao tun.«
Amenophis winkte ab. »Gerede! Du wirst noch heute aufbrechen.«
»Weshalb ich?«
»Weil du Uns treu ergeben bist, natürlich. Warum sonst?« Amenophis sah ehrlich überrascht aus. »Weil wir Uns auf dich verlassen können. Niemand sonst würde in einer solchen Lage zu seinem Wort stehen. Aber du, Seth, du wirst es tun. Das wissen Wir. Und du wirst diese Sache schnell erledigen.«
Seths Hass drohte ihn zu überwältigen, doch nach außen hin blieb er ruhig. »Wie soll ich von hier nach Axis Mundi kommen?«
»Ein Freund wird dich zur Stadt des Lords bringen«, sagte der Pharao. »Bis vor seinen Thron.«
Die Tür schwang auf, und herein trat der größte Sphinx, den Seth je gesehen hatte. Er hatte langes, bronzefarbenes Haar, das weit über seinen Rücken fiel und zu einem armdicken Pferdeschwanz gebunden war. Die Muskulatur seines
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