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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Oberkörpers stand der seiner Raubtierbeine nicht nach, war gewaltiger als alles, was Seth je bei einem Menschen gesehen hatte. Und sein Gesicht war sonderbar: Es war mit hellbraunem Haar überzogen, wie Überbleibsel einer Mähne - eigentlich undenkbar für die bartlosen Sphinxe. Seine Augen hatten geschlitzte Pupillen. Die Augen einer Raubkatze.
    Das Wesen lächelte Seth an und entblößte gelbe Fangzähne. Wie beiläufig ließ es seine Flanken zucken und entfaltete riesige Schwingen, ledrig, aber mit einem pelzigen Flaum überzogen.
    Das ist unmöglich!, durchfuhr es Seth. Sphinxe haben keine Flügel. Ihre Augen und Zähne sind die von Menschen.
    Aber dies hier war etwas anderes. Es strömte Kraft und Grausamkeit aus wie einen schlechten Geruch.
    »Iskander«, sagte Amenophis und - unglaublich! - verbeugte sich in Richtung des Biests. Zu Seth gewandt sagte er leise: »Dein Begleiter.«

Winter

    Vermithrax stieß sich vom Rand des Riesenohrs ab.
    Merle verlor unmittelbar die Orientierung. Rechts, links, oben, unten - alles wurde eins, ein wirbelnder Strudel aus rotem Licht und Fels. Der Schädel raste an ihnen vorüber, sie gerieten in seinen Sog, taumelten, überschlugen sich fast - und lagen dann für kurze Zeit stabil in der Luft.
    Nur ein paar Sekunden lang.
    Dann stieß Vermithrax ein Brüllen aus, warf sich zur Seite, überschlug sich tatsächlich und kam gerade noch rechtzeitig wieder in die Waagerechte, bevor Merle ihren Halt verlieren und abstürzen konnte.
    Ihr Herz raste so laut, dass es all ihre Sinne erfüllte. Nur noch Dröhnen in ihrem Schädel, jetzt sogar schmerzhaft. Kein Platz für klare Gedanken.
    Dann war auch schon der zweite Schädel heran, und die Welt versank im Chaos. Der Obsidianlöwe brüllte erneut, dann ging ein Ruck durch seinen Körper, der sich wie Hammerschläge durch Merles Knochen, Muskeln und Gelenke fortsetzte. Man hätte sie ebenso gut packen und gegen eine Wand schlagen können, mit dem Schädel auf Stein. Als ihr Bewusstsein zurückkehrte, lag sie neben Vermithrax hinter dem Außenwulst eines Ohrs, gebettet auf etwas, das sie im ersten Moment für Asche hielt. Dann erkannte sie schwarze Daunen. Vogelfedern, hätte sie in der Oberwelt angenommen. Hier unten mochten sie von Gott weiß was für Wesen stammen.
    Bei ihrem Glück waren es vermutlich Fleischfresser, die sich ausgerechnet dieses Ohr für ihren Winterschlaf ausgesucht hatten.
    Es waren auffallend viele Federn. Und sie rochen nach Teer, wie der Wind, der über die Höllenwüste wehte.
    »Es ist niemand hier«, sagte die Fließende Königin in ihrem Kopf. »Nicht hier im Ohr.«
    »Sind wir da, wo wir… wo wir hinwollten?«
    »Nicht wir - wo du hinwolltest!«
    Haarspalterei, dachte Merle. »Das hier ist der zweite Schädel?«
    »Ja«, antwortete Vermithrax an Stelle der Königin. »Es hat geklappt. Gerade so.«
    Merle rappelte sich auf. Ihr Kopf dröhnte noch immer, als hätte man sie an Heiligabend unter einer Kirchenglocke eingesperrt. Sie schwankte, und Vermithrax wollte sie schon mit seinem Löwenschwanz ab stützen. Doch sie schüttelte den Kopf, brauchte noch einen Moment, hielt sich dann aber aus eigener Kraft auf den Beinen.
    Da war etwas, das sie sich vorgenommen hatte. Und sie würde es zu Ende bringen.
    »Wie heldenhaft.«
    Merle überhörte den Kommentar. Sie musste vom Ohr aus an der Seite des riesigen Steinkiefers entlang bis zum Mund klettern. Und das alles, um dort vielleicht einen Sterbenden vorzufinden, dem niemand mehr helfen konnte.
    Sie würde es trotzdem versuchen.
    Vermithrax atmete schwer. Er sah erschöpft aus, seine Augen glasig. Trotzdem erkannte er, was Merle vorhatte.
    »Ruh dich noch einen Moment aus.«
    »Dann komme ich vielleicht zur Vernunft und überlege es mir anders.« Merles Stimme zitterte leicht, aber sogleich hatte sie sich wieder im Griff.
    Der Löwe legte sein Haupt schräg und musterte sie eindringlich. »Was du dir einmal in den Kopf gesetzt hast, wirfst du nicht so einfach über den Haufen.«
    Merle war nicht sicher, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte. Sie spürte den guten Willen des Obsidianlöwen. Er wollte ihr Mut machen. Genau genommen brauchte sie eine ganze Menge davon.
    »Besser jetzt als später«, sagte sie und begann, über die Brüstung zu klettern, über den vorderen Wulst des Ohrs.
    »Bist du sicher, dass du das hier tun willst?«, fragte die Königin.
    »Du hast doch nicht vor, es mir auszureden, oder?«
    »Ist allein deine

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