Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
blicken, wie schon draußen auf den Stegen. Zum ersten Mal wurde ihr derart schwindlig, dass sie am Fuß der Treppe stehen bleiben und sich am Geländer festhalten musste.
Im Zentrum der Wendeltreppe befand sich eine runde Scheibe, die über einen Seilzugmechanismus nach oben bewegt werden konnte; der Rollstuhl, für den man sie gebaut hatte, war verlassen. Sein Besitzer bewegte sich auf Krücken durch den Gitterraum unterhalb des Hauses. Die Gehhilfen endeten in handtellergroßen Holzfüßen, breit genug, um nicht in den Gittermaschen stecken zu bleiben.
Verteilt an den Wänden standen breite Glaszylinder, manche fast drei Meter hoch. Mindestens fünfzehn oder zwanzig, schätzte Merle. Jeder der Zylinder war mit einer Flüssigkeit gefüllt, die im Licht der Kuppel so golden wie Honig schimmerte. In der Flüssigkeit, gefangen wie Urzeitinsekten in Bernstein, schwammen Lebewesen. Keines davon war menschlich.
Merle musste sich zwingen, den Blick von den grotesken Gestalten abzuwenden, aber sie sah lange genug hin, um zu erkennen, dass sie nur eine Gemeinsamkeit hatten: Alle wiesen einen tiefen Schnitt auf - meist in der Mitte des Körpers -, der mit Faden und Kreuzstich vernäht war. Operationsnarben. Dort, wo sich beim Menschen die Brust befand.
Herzhaus, dachte Merle und schauderte.
»Sieh dich um«, sagte der alte Mann, verlagerte sein Gewicht nach rechts und deutete mit der linken Krücke durch den Raum, in einem zittrigen Rundumschlag, der alle Glaszylinder und Kreaturen einbezog. »Mein Werk«, setzte er leiser hinzu, im Flüsterton, als wollte er die Wesen in den Behältern nicht wecken.
»Wer sind Sie?«, fragte Merle, immer noch bemüht, nur ihn anzusehen.
»Mein Name?« Er stieß ein gackerndes Lachen aus, das ihr aufgesetzt erschien, und sie fragte sich unwillkürlich, ob er seinen Irrsinn nur spielte. Der verrückte Wissenschaftler, nichts als eine Rolle. Aber eine, in der er sich gefiel. Und das war mindestens ebenso beunruhigend wie echter Wahnsinn.
Er redete nicht weiter, und noch einmal stellte Merle ihre Frage. Dabei bemerkte sie, dass er sie dazu gebracht hatte, genauso zu sprechen wie er: Er hatte die Angewohnheit, seine Sätze zu wiederholen, als müsste er sich erst ihres Klangs vergewissern, um sie dann ein zweites Mal, diesmal deutlicher, auszusprechen.
»Die meisten hier - zumindest diejenigen, die sprechen können - nennen mich nur den Chirurgen«, sagte der alte Mann. »Nur den Chirurgen.«
»Sie sind Arzt?«
Er grinste wieder. Sein ganzes Gesicht schien sich dabei zu verschieben. Was sie für graue Haut gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Bartstoppeln, die bei ihm bis unter die Augen reichten. »Aber gewiss doch, ein Arzt, gewiss.«
Er versuchte, ihr Angst zu machen. Das mochte bedeuten, dass er in Wahrheit nicht so gefährlich war, wie er vorgab - oder aber sehr viel schlimmer: ein Wahnsinniger und ein Selbstdarsteller.
»Diese Wesen hier« - Merle deutete auf die Zylinder, ohne hinzusehen -, »sind das alles Ihre… Patienten?«
»Frühe Exemplare«, sagte er. »Aus einer Zeit, als meine Technik noch nicht ausgereift war. Nicht ausgereift. Ich habe sie aufgehoben, um mich an meine Fehler zu erinnern. Man wird sonst so leicht übermütig, weißt du. So übermütig.«
»Warum zeigen Sie mir das?« Ihr war aufgefallen, dass weder der Gestaltwandler noch die Schlangen sie die Treppe hinabbegleitet hatten. Sie war allein mit dem alten Mann. Aber irgendwie konnte sie nicht glauben, dass er leichtsinnig war. Er fühlte sich sicher. Und das gewiss aus gutem Grund.
»Ich will, dass du keine Furcht vor mir hast.«
Ha-ha, dachte sie.
»Er spielt mit dir«, sagte die Königin.
Ist mir aufgefallen.
»Dann lass dich darauf ein. Mach den besseren Zug. Setz ihn schachmatt.«
Hoffentlich schlägt er vorher nicht meine Königin.
»Sehr witzig.«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Merle den alten Mann.
Er lächelte warmherzig, und fast wirkte es ehrlich. »Geduld musst du haben. Geduld.«
Merle gab sich alle Mühe, ihre Angst nicht zu zeigen. Wenn er ihr schon die Gelegenheit gab, musste sie versuchen, so viel wie möglich zu erfahren. »Als die Lilim mich gefangen haben, da haben Sie ihnen befohlen, mich gleich hierher zu bringen. Aber dann haben Sie mich doch erst eingesperrt. Warum?«
Er winkte fahrig ab. »Ich hatte zu tun.« Mit einem Grinsen setzte er hinzu: »Hatte zu tun.«
Merle schaute sich instinktiv um, ließ ihren Blick langsam über die Wesen in den Zylindern
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