Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
verkniffenen Augen, in denen Hass und Wut loderten.
»Du musst dich nicht mehr vor ihm fürchten«, sagte ihr Begleiter, als sie von der Plattform auf einen der Gitterstege traten.
Lord Licht, hämmerte sie sich ein. Er ist Lord Licht.
Nur ein Mensch.
»Der Chirurg kann dir nichts mehr tun«, sagte er.
Ihre Hand bewegte sich an ihre Brust, tastete nach dem raschen Pulsieren ihres Herzens.
Lord Licht bemerkte es. »Es ist noch das alte, keine Sorge. Herzen aus Stein schlagen nicht.«
Sie musterte ihn von der Seite und fand, dass er wie ein Gelehrter aussah - was er zweifellos war, falls der Chirurg die Wahrheit gesagt hatte.
Er trug einen schwarzen Gehrock, eng geschnitten, mit einer Blüte aus rotem Glas am Revers. Auch seine Hose war schwarz, die spitzen Lackschuhe blank poliert. Die goldene Kette einer Uhr hing als halbrunde Schlaufe aus seiner Jackentasche, als ahme sie die Form seiner Augenringe nach. Merle hatte noch nie solche Augenringe gesehen, so dunkel, als wären sie aufgemalt. Trotzdem wirkte er nicht müde oder erschöpft, ganz im Gegenteil. Er strahlte eine Lebendigkeit aus, die sein Alter Lügen strafte.
Merle konnte ihren Blick nicht abwenden. Ausgerechnet dieser Mann sollte ihr helfen, Venedig zu befreien? Ein alter Mann, der mit seinem Gehrock angetan neben ihr lief, als wären sie gemeinsam auf einem Sonntagsspaziergang?
»Frag ihn nach seinem Namen«, sagte die Königin. »Seinem wahren Namen.«
Merle ignorierte sie. »Wo sind meine Freunde?«
»Niemand hat ihnen ein Haar gekrümmt. Der Löwe tobt ununterbrochen, seit die Lilim ihn gefangen genommen haben, aber er ist wohlauf. Den Absturz in der Halle der Herolde hat er ohne Verletzungen überstanden.«
Sie gingen nebeneinander einen Gittersteg entlang, dann eine lange Treppe hinunter und über weitere Stege. »Ich will ihn sehen.«
»Das wirst du.«
»Und wann?«
»Bald.«
»Wie geht es Winter?«
Lord Licht seufzte leise. »Ist das sein Name? Winter? Er ist ein seltsamer Bursche. Um ehrlich zu sein, kann ich dir nicht sagen, wie es ihm geht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er ist geflohen.«
»Was?« Sie blieb stehen, eine Hand am Geländer des Gittersteges. In einiger Entfernung schälten sich mehrere Gestalten aus den Lichtschwaden, nicht größer als Streichhölzer, mit zu vielen Armen und Beinen; an einer Kreuzung bogen sie ab und verschwanden eilig wieder im leuchtenden Dunst des Kuppeldoms.
»Er ist entkommen«, sagte Lord Licht und drehte sich zu ihr um. Sie spürte die Ungeduld in seiner Stimme, aber noch drängte er sie nicht. »Ich hatte ein langes Gespräch mit ihm. Und dann war er fort.«
»Ein langes Gespräch?«, fragte die Königin argwöhnisch.
»Er war schwach«, sagte Merle ungläubig. »Krank, glaube ich. Als wir ihm begegnet sind, konnte er kaum aus eigener Kraft stehen.«
»Nun, zumindest konnte er sich aus eigener Kraft befreien.«
Merle blickte an ihm vorbei, hinab in die glosende Tiefe. Sie fragte sich, warum sie keine Angst vor Lord Licht hatte. »Das ist unmöglich. Sie lügen mich an.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Vielleicht haben Sie ihn umgebracht.«
»Ohne Grund?«
Sie kam kurz ins Stocken, als sie versuchte, ein vernünftiges Argument zu finden. Sie war nahe daran, etwas Dummes zu sagen, etwas wie: »Aber Sie sind der Herr der Hölle! Sie sind böse, jedes Kind weiß das. Sie brauchen keinen Grund, um jemanden umzubringen.« Aber dann überlegte sie einen Augenblick länger und flüsterte: »Es kann einfach nicht sein. Er war viel zu schwach.«
Lord Licht setzte sich wieder in Bewegung und bat sie, ihm zu folgen: Er wolle ihr etwas zeigen, und der Weg dorthin sei weit. Merle fragte sich, warum er nicht einfach irgendeine fliegende Monstrosität herbeirief, die sie beide an ihr Ziel brachte; aber das passte nicht zu ihm. Er entsprach so gar nicht dem Bild, das sie sich von Lord Licht gemacht hatte.
Soll ich ihn jetzt fragen?, dachte sie. Danach, ob er uns hilft? Aber irgendwie schien ihr diese Vorstellung mit einem Mal abwegig. Das Ausmaß dieser Welt in der Welt ließ ihr Anliegen zu schemenhafter Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen.
Aber deshalb waren sie doch hergekommen, nicht wahr?
Nicht wahr?
Statt einer Antwort sagte die Königin noch einmal: »Frag ihn nach seinem Namen.«
Diesmal gehorchte Merle, bevor die Königin sich ihrer Stimme bemächtigen konnte.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie. »Ich meine, Lord Licht ist doch nicht Ihr wahrer Name - zumindest nicht, wenn Sie
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