Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
eskortierten sie stumm den Weg entlang und gaben ihr an jeder Kreuzung mit einem Wink zu verstehen, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Sie führten sie kreuz und quer über die Stege, hinaus über den leuchtenden Abgrund, bis sie schließlich zu einer Plattform kamen, die sich im Knotenpunkt mehrerer Wege befand.
Auf der Plattform stand ein kleines Haus.
Es passte nicht hierher. Seine Wände waren aus Fachwerk, und es hatte eine steiles, rotes Schindeldach.
Aus dem spitzen Giebel ragte ein Wetterhahn empor. Die Fenster waren in Butzenscheiben unterteilt, und neben die Holztür hatte jemand, um die Idylle perfekt zu machen, eine Bank gestellt, so als käme der Bewohner dieses Häuschens ab und an ins Freie, um eine gemütliche Pfeife zu rauchen. Das Haus strahlte die Behaglichkeit eines Märchens aus. Im Näherkommen erkannte Merle über der Tür ein geschnitztes Schild: Tritt ein, bring Herz herein! Rund um die Buchstaben waren kleine Herzchen und Blumen eingearbeitet, ungeschickt wie von Kinderhand.
Einer ihrer Bewacher schob sie auf die Tür zu, die anderen blieben am Rand der Plattform zurück. Jemand öffnete von innen, und dann wurde Merle hineingeleitet, unter dem Schild mit der Inschrift hindurch, die ihr jetzt, beim zweiten Lesen, aus unerklärlichen Gründen eine Gänsehaut bereitete. Hieß es nicht eigentlich »bring Glück herein«? Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, als schlüge ihr Herz wie unter Protest ein paar Schläge schneller, so heftig, dass es in ihrer Brust schmerzte.
Im Inneren des Hauses hatte man sich bemüht, den romantischen Anschein der Außenseite aufrechtzuerhalten, doch irgendwer war daran kläglich gescheitert. Zwar gab es auch hier Fachwerkbalken, sogar einen Bauernschrank mit Blumenintarsien, aber da waren andere Gegenstände, die nicht in die gewollte Niedlichkeit der Szenerie passen wollten.
Der Operationstisch, zum Beispiel.
Das Erdgeschoss des Herzhauses bestand aus einem einzigen Raum, der auf wundersame Weise weitläufiger zu sein schien, als die Außenansicht des Hauses vermuten ließ. Eine optische Täuschung, entschied Merle.
» Vielleicht «, sagte die Fließende Königin.
Im hinteren Teil des Raumes, nur dürftig verborgen hinter einem Gewirr aus Balken, die für die Stabilität des Gebäudes sorgten, befanden sich allerlei Ablagen aus Metall, mit gescheuerten Oberflächen, auf denen Instrumente ausgebreitet waren, säuberlich aufgereiht auf schwarzen Tüchern und akribisch poliert. Stahl blitzte im allgegenwärtigen Glutlicht, das durch die Butzenfenster hereinfiel.
Hinter Merle schloss sich die Tür. Sie wirbelte herum und erkannte, wer ihr geöffnet hatte. Die Schlangen, die in der Halle der Herolde den Rollstuhl des alten Mannes geschoben hatten, glitten in einer einzigen Bewegung auf sie zu und bauten sich unmittelbar vor ihr zu einer birnenförmigen Gestalt auf, mindestens einen Kopf größer als sie. Das Wesen beugte sich vor, bis sich seine Oberfläche nur noch einen Fingerbreit vor Merles Nase befand, eine schillernde Masse aus sich windenden Körpern. Schließlich floss das Schlangennest in die Breite und bewegte sich als knöchelhoher Teppich in den rückwärtigen Teil des Raumes, wo es sich abermals auftürmte, diesmal zur spitzen Form eines Zuckerhutes. So verharrte das Wesen und wartete.
Merle wollte sich umdrehen und fliehen, aber der Gestaltwandler versperrte ihr den Weg. Er besaß jetzt noch weniger Ähnlichkeit mit Winter, wurde stattdessen etwas anderes, zu widerlich, als dass Merle ihm mehr als einen flüchtigen Blick schenkte.
»Ich kann dir nicht helfen«, sagte die Fließende Königin.
Gut zu hören, dachte Merle.
»Tut mir Leid.«
Und mir erst.
»Ich weiß, ich hob dich hierher gebracht, aber -«
Sei still. Bitte.
»Ist sie das?«, rief eine Stimme.
Falls die Schlangen eine Antwort gaben, konnte Merle sie nicht hören. Aber gleich darauf befahl die Stimme: »Bring sie herunter.«
Die Schlangen glitten wieder auf Merle zu. Sie wich ihrer Berührung aus und ging freiwillig auf die Bodenöffnung zu, aus der die Stimme erklungen war. Obwohl Merle sie zuvor erst einmal gehört hatte, erkannte sie auf Anhieb den alten Mann wieder.
»Zu mir, zu mir«, rief er.
Merle erreichte die Öffnung und stieg eine Wendeltreppe hinunter, in einen Raum, dessen Boden und Wände aus Stahlgittern bestanden. Licht aus der Tiefe durchflutete ihn von allen Seiten. Durch das Gitter zu ihren Füßen konnte sie in den leuchtenden Abgrund
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