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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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versuchte den Kopf zu drehen, was einigermaßen gelang, obwohl ihre Beine sie weiter die Treppe hinauftrugen. »Lassen Sie das!«, brüllte sie den Chirurgen an, der sich gerade in seinem Rollstuhl niederließ. »Pfeifen Sie diese Viecher zurück.«
    Der alte Mann schmunzelte nur, legte einen Schalter um und wurde von dem Seilzug im Zentrum der Wendeltreppe nach oben getragen, langsam genug, dass Merle mit ihm Schritt halten konnte.
    Oben angekommen, bewegte sie sich zielstrebig auf den Operationstisch zu, legte sich flach auf den Rücken und brüllte und fluchte so ausgiebig, dass der Chirurg drohte, den Schlangen zu befehlen, in ihren Mund zu kriechen. Daraufhin schwieg sie und sah hilflos zu, was weiter mit ihr geschah.
    Einige Schlangen lösten sich von der Mitte ihres Körpers und verschwanden rechts und links unter der Tischplatte. Merle versuchte sich aufzubäumen, und das Ergebnis war kläglich, kaum mehr als ein Zucken in ihrer Leibesmitte.
    Stahlbänder wurden über ihren Hand- und Fußgelenken geschlossen, dann zog sich auch der Rest der Schlangen zurück, kroch und glitt vom Tisch und setzte sich am Boden zur birnenförmigen Gestalt des Nests zusammen.
    Merle zerrte und rüttelte an ihren Fesseln.
    »Sehr gut, sehr gut«, sagte der Chirurg. »Ich denke, wir werden dich erst betäuben. Schlägt dein Herz auch schnell genug?«
    Merle schrie ihm einen ganzen Schwall von Beschimpfungen entgegen, die übelsten, die ihr einfielen, und nach den Jahren im Waisenhaus waren das eine ganze Menge. Ihr war egal, ob die Schlangen über ihr Gesicht krochen. Ihr war überhaupt alles gleichgültig, solange dieser Mistkerl nur auf der Stelle vom Blitz getroffen wurde.
    Der Chirurg gab dem Schlangennest einen Wink, und bald darauf begann es hinter ihrem Kopf unangenehm zu riechen, scharf, wie manche der Chemikalien in Arcimboldos Werkstatt. Das Betäubungsmittel wurde vorbereitet.
    Der scharfe Geruch wurde stärker. Sie verdrehte den Kopf, so weit es nur ging, um hinter sich zu blicken, erkannte aber nur aus dem Augenwinkel das Wimmeln der Schlangen. Sie quollen wie eine dunkle Woge auf sie zu.
    Merles Wahrnehmung verschob sich. Die Umgebung drehte sich, floss ineinander.
    Schlangen wuselten im Hintergrund.
    Merles Herz hämmerte in ihrem Brustkorb.
    Der Chirurg kam näher, sein Gesicht schwoll an, füllte ihr Blickfeld, füllte die Welt.
    Sein Fleisch und das der Schlangen, leuchtend wie Farben auf der Palette eines Malers.
    Sein Grinsen.
    »Halt!«
    Die Welt rotierte weiter, eine Welt aus gelben Zähnen und grauer Haut.
    »Ich sagte: Halt!«
    Der Geruch wurde schwächer. Die Umgebung veränderte sich. Das Gesicht des Alten verlor an Schärfe, zog sich zurück.
    »Lass sie auf der Stelle los!« Nicht die Stimme des Chirurgen, auch nicht ihre eigene. Jemand anders.
    Die Eisenschellen an ihren Händen und Füßen schnappten zurück, und plötzlich war sie frei. Keine Fesseln und keine Schlangen mehr, die sie hielten.
    Mit dem Verschwinden des ätzenden Dunsts kehrte auch die Umgebung zurück. Die weiße Decke, die Holzbalken, alles wieder am Platz.
    Im Hintergrund stritten zwei Stimmen miteinander. Die eine gehörte dem Chirurgen. Die andere war die des Unbekannten, der sie gerettet hatte.
    Gerettet?
    Vielleicht.
    »Merle?«, fragte die Fließende Königin und klang so benommen wie Merle selbst.
    Ich bin hier, dachte sie, auch wenn es sich anfühlte, als hätte ein anderer für sie das Denken übernommen. Wo sollte sie auch sonst sein?
    »Es geht dir gut.« Keine Frage, eine Feststellung.
    Gut. Ja.
    Der Streit brach ab, und nun beugte sich jemand über ihr Gesicht. Nicht der Chirurg. Aber der Mann war mindestens ebenso alt.
    Wissenschaftler wie wir alle, hatte der Chirurg gesagt.
    Wie wir alle.
    »Sind Sie Lord Licht?«, fragte Merle schwach.
    »Ja«, sagte der Mann. Er hatte dichtes, graues Haar.
    »Sie sind ein Mensch«, stellte sie fest und dachte, dass sie träumte, war fest davon überzeugt.
    Lord Licht, der Herrscher der Hölle, lächelte. »Glaub mir, Merle, der Mensch ist ein besserer Teufel als der Teufel.«
    Sein Gesicht zog sich zurück, dann hörte sie nur noch seine Stimme.
    »Und jetzt steh bitte auf, und komm mit.«

Lord Licht

    Der Chirurg blirb zurück im Herzhaus. Merle warf dem Mann im Rollstuhl einen letzten Blick zu, als Lord Licht sie hinaus auf die Plattform schob, eine Hand auf ihrer Schulter, nicht unfreundlich, und doch bestimmt. Der Chirurg hatte erst sie angestarrt, dann Lord Licht, aus kleinen,

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