Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
hergeführt.«
»Ja«, sagte die Königin, »aber nicht uns allein.«
Merle musste nicht zurückblicken, um zu wissen, dass die Königin die Wahrheit sagte. Der Lilimschwarm war immer noch hinter ihnen, ebenso unermüdlich wie Vermithrax und der Horuspriester.
»Das könnte spannend werden«, murmelte sie.
»Und knapp«, sagte Junipa, die sich im Gegensatz zu ihr umgeschaut hatte.
Nun konnte auch Merle nicht anders und blickte nach hinten.
Die Lilim waren keine fünfzig Meter entfernt.
Sie konnte Burbridges Lächeln sehen.
Treibgut
Der Schildkrötenpanzer schaukelte auf den Wellen wie ein Herbstblatt, das von einem Baum herabsegelt. Serafins Magen krampfte sich seit Stunden zusammen, als fiele er tatsächlich, ein endloser Sturz in einen ungewissen Abgrund, und etwas in ihm schien allen Ernstes auf den Aufschlag zu warten - auf irgendetwas, das der Monotonie ein Ende setzte.
Er blickte schon so lange hinaus auf die gleichförmige See, dass er das Bild sogar dann noch sah, wenn er die Augen schloss: ein wolkenverhangener Himmel, und darunter die graue Wellenwüste des Meeres, aufgewühlt, aber nicht stürmisch, kalt, aber nicht eisig, so als könne sich selbst das Wasser nicht entscheiden, was es wollte. Nirgends war Land zu sehen. Ihre Lage war nicht hoffnungsvoller geworden durch die Tatsache, dass die Meerjungfrauen, die sie bis dahin gezogen hatten, vor einer Weile spurlos verschwunden waren. Von einem Augenblick zum nächsten waren sie abgetaucht, und er musste Unke nur in die Augen sehen, um zu erkennen, wie ratlos sie war.
Unke saß zwischen Dario und Tiziano in einem der Hornsegmente des Schildkrötenpanzers und hielt den Rucksack mit Arcimboldos Spiegelmaske fest an sich gepresst. Serafin trauerte mit ihr, gewiss, aber trotz allem hätte er es zu schätzen gewusst, wenn sie ihre Niedergeschlagenheit für eine Weile abgestreift und sich ein paar Gedanken über die Zukunft gemacht hätte. Die unmittelbare Zukunft.
Es sah nicht gut aus. Ganz und gar nicht.
Aristide hatte es aufgegeben, vor sich hin zu plappern - immerhin. Serafin hatte befürchtet, dass entweder Dario oder Tiziano den Jungen über Bord werfen würden, aber bei Tagesanbruch hatte Aristide endlich Ruhe gegeben. Jetzt starrte er benommen vor sich hin, blieb stumm, wenn man ihn ansprach, nickte aber gelegentlich oder schüttelte den Kopf, wenn jemand eine Frage stellte.
Am sonderbarsten von allen aber verhielt sich Lalapeja. Die Sphinx kauerte in ihrer Menschengestalt halb über dem Rand des Panzers und ließ eine Hand bis zum Gelenk im Wasser baumeln. Jemand - Serafin glaubte, es war Tiziano - hatte eine Bemerkung gemacht, ob Lalapeja wohl hoffe, einen Fisch zum Frühstück zu fangen, aber niemand hatte gelacht. Und jetzt war die Zeit fürs Frühstück ohnehin längst verstrichen.
Serafin erfüllte das Schweigen der Sphinx mit Zorn, beinahe mehr noch als die Lage, in die Lalapeja sie gebracht hatte. Selbst jetzt, nach endlosen Stunden auf dem Wasser, erst bei Dunkelheit und nun im hellen Tageslicht, hielt sie es nicht für nötig, ihnen die Ereignisse der Nacht zu erklären. Sie brütete vor sich hin, blickte ins Leere - und ließ dabei ihre Hand ins Wasser hängen, als wartete sie nur darauf, dass jemand von unten danach griff.
Aber auf wen sie auch immer warten mochte, er verweigerte ihr den Gefallen.
»Lalapeja«, sagte Serafin zum hundertsten Mal, »was ist auf San Michele geschehen? Wie lange hat dieses… dieses Ding dort gelegen?«
Er dachte: Sie wird »lange« sagen.
»Lange«, sagte sie.
Dario rückte vor der Hornwand in seinem Rücken hin und her, doch die Bequemlichkeit, die er suchte, fand er nicht. »Das war kein gewöhnlicher Sphinx.«
»Ach ja?« Tiziano zog eine Grimasse. »Als wäre uns das nicht selbst aufgefallen.«
»Was ich meine«, sagte Dario scharf und starrte den Freund dabei böse an, »ist, dass das nicht einfach ein großer Sphinx war. Oder ein riesiger Sphinx. Das, was da unter San Michele begraben lag, war… mehr.« Ihm fehlten die passenden Worte, er schüttelte den Kopf und schwieg wieder.
Serafin stimmte ihm zu. »Mehr«, sagte er knapp, und nach einer Pause: »Ein Sphinxgott.«
Aristide, der verwirrte, schweigsame Aristide, schaute auf und sagte die ersten Worte seit vielen Stunden: »Wenn es ein Gott war, dann ein böser.«
Als erwache Lalapeja mit einem Mal aus einer Trance, die sie weit von den Jungen und dem Schildkrötenpanzer, sogar vom Meer fortgetragen hatte, ergriff sie das Wort:
Weitere Kostenlose Bücher