Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Sie haben damit ihren Krieg gegen die Herren der Tiefe geführt, gegen die Vorfahren der Lilim."
Merle sah, wie sich die Mosaikstücke allmählich zu einem Ganzen zusammenfügten.
Möglicherweise waren die Horuspriester auf Überreste oder Aufzeichnungen der Subozeanischen Kulturen gestoßen. Vielleicht war es ihnen mit deren Hilfe gelungen, den Pharao zu erwecken oder ihre Sonnenbarken zu bauen. Plötzlich erfüllte es sie mit bitterer Genugtuung, dass die Städte der Subozeanischen Reiche schon vor Äonen auf dem Meeresgrund zu Ruinen zerfallen waren. Die Aussicht, dass es dem Imperium ebenso ergehen würde, rückte mit einem Mal ein ganzes Stück näher.
„Da kommt jemand!" Vermithrax blieb stehen.
Merle schrak auf. „Von unten?"
Die Löwenmähne wippte: ein Nicken. „Ich kann sie wittern."
„Sphinxe?"
„Mindestens einer."
„Kannst du nicht näher ans Geländer? Vielleicht sehen wir sie dann."
„Oder sie uns", erwiderte der Löwe kopfschüttelnd. „Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir fliegen an ihnen vorbei." Bislang hatte er sich geweigert hinabzufliegen, weil der Schacht im Zentrum der Wendeltreppe sehr eng war; er fürchtete, sich die Schwingen an den scharfen Kanten zu brechen. Und ein verwundeter Vermithrax war das Letzte, das sie sich leisten konnten.
Dennoch - so wie es aussah, mussten sie es wagen.
Sie vergeudeten keine Zeit. Merle klammerte sich fest. Vermithrax stieß sich ab und sprang über das Geländer hinweg und in den Abgrund. Schon einmal hatten sie gemeinsam einen solchen Steilflug gewagt, während der Flucht aus dem Campanile in Venedig. Doch dieser hier war schlimmer. Die Kälte biss in Merles Gesicht und Kleidung, sie konnte die Schneepartikel nicht fortwischen, die in ihre Augen drangen, und ihr Herz galoppierte, als wollte es ihr vorauseilen. Sie bekam fast keine Luft mehr.
Sie passierten zwei Windungen der Treppe, dann drei, vier, fünf. Auf Höhe der sechsten bremste Vermithrax den Sturzflug mit solcher Gewalt, dass Merle im ersten Moment an einen Aufprall glaubte -
auf Stein, auf Stahl, vielleicht auf einen unsichtbaren Spiegelboden des Treppenschachtes. Dann aber legte sich der Löwe in die Waagerechte und schwebte mit sanftem Schwingenschlag in der Mitte der Treppe, unter sich und über sich nur Leere, und vor ihnen -
„Das kann doch nicht -" Dann versagte Merles Stimme, und sie war nicht mal mehr sicher, ob sie die Worte tatsächlich ausgesprochen oder nur gedacht hatte.
Es hätte beinahe ihr Spiegelbild sein können: eine Gestalt, die auf dem Rücken eines halb menschlichen Wesens ritt, das auf vier Beinen die Stufen hinaufstieg. Ein Junge, nur ein wenig älter als Merle, mit wirrem Haar und molliger Fellkleidung. Das Wesen, auf dem er saß, war eine weibliche Sphinx. Ihre Hände waren notdürftig bandagiert, hinauf bis zu den Ellbogen. Die vier Pranken ihres Löwenunterleibs schienen unversehrt zu sein, sie hatten ihren Reiter sicher die Treppe hinaufgetragen.
Die Sphinx war schön, viel schöner, als Merle sie sich vorgestellt hatte, und daran konnte nicht einmal ihr müder, ausgezehrter Ausdruck etwas ändern. Sie hatte schwarzes Haar, das ihr glatt über die Schultern fiel, bis hinab zu der Stelle, wo Mensch und Löwe miteinander verschmolzen.
Der Junge riss die Augen auf, seine Lippen bewegten sich, aber seine Worte gingen im Rauschen der Löwenschwingen und dem Toben ferner Schneestürme unter.
Merle flüsterte seinen Namen.
Und Vermithrax griff an.
Amenophis
Seth hatte längst aufgehört, ihr mit dem Schwert zu drohen. Es war unnötig, das wussten sie beide.
Und es entbehrte einer gewissen Würde, dass ein Mann wie er mit der Sichelklinge auf ein Mädchen wie Junipa zeigte, halb so groß und sehr viel schmächtiger.
Junipa war sicher, dass er ihr nichts antun würde, solange sie ihm gehorchte. Im Grunde, glaubte sie, war sie ihm gleichgültig, so wie Merle und die anderen, so wie die ganze Welt. Seth hatte das Imperium aufgebaut, mit Schweiß und Blut und Entbehrungen, und nun würde er es mit eigenen Händen wieder einreißen, zumindest aber den Hammer zum ersten Schlag schwingen.
„Nach Venedig", hatte er gesagt, nachdem er sie zurück in die Spiegelwelt gestoßen hatte. „In den Palast." Als wäre Junipa ein Gondoliere auf dem Canal Grande.
Als sie ihn einen Moment lang ungläubig angesehen hatte, war ein Funken von Zweifel in seinen Augen erschienen. Als wäre er sich über ihre Fähigkeiten nicht wirklich im Klaren.
Dann aber sagte sie
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