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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sternenhimmels.
    Seth trat an ihr vorbei auf den Pharao zu. Falls er sich nach Bewachern oder anderen Gegnern umsah, verriet er es durch keine Bewegung. Er blickte starr nach vorn, dem unscheinbaren Jungen entgegen, der ihn vor dem Diwan erwartete.
    „Sind al e fort?", fragte er.
    Amenophis rührte sich nicht. Sagte nichts.
    „Sie haben dich verlassen, nicht wahr?" Seths Tonfall war ohne jeden Hochmut oder Schadenfreude.
    Eine Feststellung, nichts sonst. „Die Sphinxe sind gegangen. Und ohne die Horuspriester ... ja, was bist du ohne uns, Amenophis?"
    „Wir sind der Pharao", sagte der Junge. Er war kleiner als Junipa, sehr schmächtig und unscheinbar.
    Er klang trotzig, aber auch ein wenig resigniert, so als hätte er sich insgeheim bereits mit seinem Schicksal abgefunden. Und da begriff Junipa, dass es keinen spektakulären Endkampf zwischen den beiden geben würde. Kein wildes Schwerterklirren, kein mörderisches Gefecht über Tische und Stühle, keine Gegner, die an Leuchtern und Vorhängen durch die Gegend schwangen.
    Dies war das Ende, und es kam still und ohne Getöse. Wie der Schlusspunkt einer schweren Krankheit, ein leiser Tod nach langem Siechtum.
    „Wurden alle Priester hingerichtet?", fragte Seth.
    „Das weißt du."
    „Du hättest sie laufen lassen können."
    „Wir haben dir Unser Wort gegeben: Wenn du versagst, würden sie sterben."
    „Du hast dein Wort schon einmal gebrochen, als du die Horuspriester verraten hast."
    „Kein Grund, es ein zweites Mal zu tun." Das Lächeln des Jungen strafte seine Worte Lügen, als er hinzusetzte: „Sogar Wir lernen manchmal aus unseren Fehlern."
    „Nicht heute."
    Amenophis machte ein paar träge Schritte nach rechts, zu einer großen Wasserschale neben dem Diwan. Er steckte die Hände hinein und wusch sie gedankenverloren. Beinahe erwartete Junipa, dass er eine Waffe hervorziehen und auf Seth richten würde. Doch Amenophis rieb sich nur die Finger sauber, schüttelte sie kurz, sodass die Tropfen in alle Richtungen wirbelten, bevor er sich wieder dem Priester zuwandte.
    „Unsere Armeen sind unfassbar groß. Millionen und Abermil ionen. Wir haben die stärksten Männer als Wächter, Kämpfer aus Nubien und dem alten Samarkand. Aber Wir sind müde. So müde."
    „Warum rufst du nicht nach deinen Wächtern?"
    „Sie sind gegangen, als die Sphinxe verschwanden. Die Priester waren tot, und plötzlich gab es nur noch lebende Leichen in diesem Palast." Er stieß ein schnatterndes Lachen aus, das weder echt noch besonders humorvoll klang. „Die Nubier sahen die Mumien an, dann Uns, und sie begriffen, dass sie die einzigen Lebenden in diesem Gebäude waren."
    Er hat den Rat ermorden lassen, durchfuhr es Junipa. Den ganzen Stadtrat von Venedig.
    „Sie verließen Uns kurze Zeit später, heimlich natürlich. Dabei hatten Wir ihnen längst angesehen, was in ihren Köpfen vorging." Er hob die Schultern. „Das Imperium zerstört sich selbst."
    „Nein", sagte Seth. „Du hast es zerstört. In dem Moment, als du meine Priester hast hinrichten lassen."
    „Du hast Uns nie geliebt."

    „Aber respektiert. Wir Horuspriester waren dir stets treu und wären es weiterhin gewesen, wenn du nicht den Sphinxen den Vorzug gegeben hättest."
    „Die Sphinxe haben nur Interesse an ihren eigenen Intrigen, das ist wahr."
    „Eine späte Einsicht."
    Zum ersten Mal sprach Amenophis von sich in der Einzahl: „Was soll ich sagen?" Der mächtigste Junge der Welt lächelte, aber sein Gesicht verzerrte sich dabei wie sein Spiegelbild auf der bewegten Oberfläche der Wasserschale. „Ich habe viertausend Jahre geschlafen, und ich kann es wieder tun.
    Aber die Welt wird mich nicht vergessen, nicht wahr? Das ist auch eine Form von Unsterblichkeit.
    Niemand kann vergessen, was ich der Welt angetan habe."
    „Und darauf bist du stolz?", fragte Junipa, ihre ersten Worte seit ihrer Ankunft. Amenophis würdigte sie keiner Antwort, nicht einmal eines Blickes. Doch etwas wurde ihr schlagartig klar: Die beiden sprachen Ägyptisch miteinander, und dennoch verstand sie, was sie sagten. Und sie begriff gleichzeitig, was Arcimboldo gemeint hatte, als erklärt hatte: „Als Führer durch die Spiegelwelt bist du ein Meister aller Stimmen, aller Zungen. Denn was wäre ein Führer, wenn er die Sprache der Länder nicht kennt, durch die er andere führt?" Wie hätte sie zuvor ahnen können, was das bedeuten sollte? Selbst jetzt fiel es ihr noch schwer, die ganze Wahrheit zu erfassen. Hieß das wirklich, sie

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