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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ließ.
    Noch eine Weile lang betrachtete Seth sein Spiegelbild, als könnte er nicht begreifen, dass der Mann im Glas er selbst war. Dann blinzelte er kurz, atmete tief durch und zog das Sichelschwert.
    „Sind Sie bereit?", fragte Junipa und sah ihm die Antwort schon an. Er nickte.
    „Ich werde erst einen Blick ins Zimmer werfen", sagte sie. „Sie wol en sicher wissen, ob der Pharao allein ist."
    Zu ihrem Erstaunen lehnte er ab. „Nicht nötig."
    „Aber –“
    „Du hast mich doch verstanden, oder?"
    „Da drüben könnten zehn Sphinxe stehen, die den Pharao bewachen! Oder hundert!"
    „Viel eicht. Aber das glaube ich nicht. Ich denke, sie sind fort. Die Sphinxe sind auf dem Weg zurück ins Eiserne Auge oder schon dort eingetroffen. Sie haben bekommen, was sie wollten. Venedig interessiert sie nicht mehr." Er lachte kalt. „Und schon gar nicht Amenophis."
    „Die Sphinxe haben ihn im Stich gelassen?"
    „So wie er die Horuspriester."
    „Was ist passiert? Mit Ihren Priestern, meine ich."
    Seth schien kurz zu überlegen, ob er ihr davon erzählen sollte, dann zuckte er die Achseln und verlagerte das Gewicht des Schwertes in seiner Hand. „Der Pharao hat mir den Auftrag gegeben, Lord Licht zu ermorden. Sollte ich scheitern, wollte er alle Horuspriester hinrichten lassen. Ich bin gescheitert.
    Und die Priester ..."
    Junipa hörte zu und sagte nichts, auch als er unvermittelt abbrach. Der Verrat des Pharaos hatte ihn tiefer getroffen, als er selbst für möglich gehalten hatte. Die beiden hatte nichts geeint, und doch war Amenophis in Seths Seele verankert. Nicht als Mensch, denn der war ihm gleichgültig, ja, er verachtete ihn sogar. Aber als sein Geschöpf, das er zum Leben erweckt hatte und das für alles stand, woran Seth einmal geglaubt hatte.
    Was Seth jetzt plante, war weit mehr, als nur das Leben eines anderen zu nehmen. Es war ein Verrat an sich selbst, an seinen Zielen, an all den Möglichkeiten, die sein Pakt mit Amenophis ihm eröffnet hatte. Es war ein Schlussstrich, auch unter sein eigenes Wirken in all den Jahrzehnten, seit er die Auferstehung des Pharaos geplant und beaufsichtigt hatte.
    Es war, so oder so, das Ende.
    Junipa ergriff seinen Unterarm, wisperte das Gläserne Wort und zog ihn durch den Spiegel.
    Sogleich war der Druck in ihrer Brust wieder da, das Tasten und Pressen und Zerren des Lichts.
    Der Saal hinter dem Spiegel war leer. Zumindest auf den ersten Blick. Dann aber entdeckte sie den Diwan aus Jaguarfellen, der sich auf der anderen Seite im Halbdunkel erhob. Es war Nacht in Venedig, und auch hier im Saal fiel nur ein schwacher Schein durch die Fenster herein. Fackellicht von der Piazza San Marco, vermutete sie. Es legte sich sanft um die Muster geschnitzter Paneele, über die Pinselstruktur von Ölgemälden und Fresken, um die Kristallglocken der Kronleuchter.

    Auf dem Diwan regte sich etwas. Ein finsterer Umriss vor einem noch finstereren Hügel aus Fellen.
    Niemand sprach.
    Junipa kam sich vor, als wäre sie nicht wirklich hier, als beobachtete sie die Szene von einem fernen Ort aus. Wie in einem Traum. Ja, dachte sie, ein großer, schrecklicher Traum, und ich kann nichts tun, außer zuzusehen. Nicht eingreifen, nicht weglaufen, nur zusehen.
    Hinter ihr schepperte Glas und klirrte in einer Kaskade aus Silbertropfen zu Boden. Seth hatte den Wandspiegel zerschlagen, durch den sie den Saal betreten hatten. Keine Möglichkeit mehr für einen Rückzug. Junipa blickte sich hastig um, doch hier gab es keine weiteren Spiegel, und sie bezweifelte, dass sie auf den Fluren des Palastes weit genug kommen würde, um einen anderen zu finden.
    Amenophis erhob sich von seinem Diwan aus Jaguarfellen, eine kleine, schlanke Gestalt, die sich leicht gebückt bewegte, als laste ein furchtbares Gewicht auf ihren Schultern.
    „Seth", sagte er müde. Junipa fragte sich, ob er betrunken war. Seine Stimme klang benommen und zugleich sehr jung.
    Amenophis, der wiedergeborene Pharao und Herrscher des Imperiums, trat in das Halblicht der Fenster.
    Er war noch ein Kind. Nur ein Junge, den man mit Goldfarbe und Schminke zu etwas gemacht hatte, das er nie hätte werden dürfen. Er war nicht älter als zwölf oder dreizehn, mindestens ein Jahr jünger als sie selbst. Und dennoch befahl er seinen Armeen seit vier Jahrzehnten, die Welt zu verheeren.
    Junipa stand stocksteif zwischen den Trümmern des Spiegels. Die Splitter waren weit über das dunkle Parkett verteilt. Es sah aus, als schwebte sie inmitten eines

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