Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
hatte das Gefühl, bei lebendigem Leibe zu Eis zu erstarren, genau wie die tote Möwe, die sie einmal im Winter auf dem Dach des Waisenhauses gefunden hatte. Der Vogel hatte ausgesehen, als wäre er einfach vom Himmel gefallen, die Flügel noch immer ausgebreitet, die Augen geöffnet. Als Merle auf der glatten Dachschräge für einen Moment das Gleichgewicht verloren hatte, war er ihr aus der Hand geglitten, und ein Flügel brach ab, als wäre er aus Porzellan.
Der Sturm passierte sie wie ein Schwarm jaulender Gespenster. Als er vorüber war und der Wind im Treppenschacht sich legte, war die Schneeschicht auf den Stufen auf beinahe das Doppelte angewachsen.
„War das Winter?", fragte Vermithrax benommen. Eiskristalle glitzerten in seinem Fell, ein seltsamer Gegensatz zu seiner Körperglut, die keine Hitze abgab und das Eis nicht zu schmelzen vermochte.
Merle setzte sich auf seinem Rücken auf, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und wischte die nassen Strähnen aus dem Gesicht. Die winzigen Härchen in ihrer Nase waren gefroren, und eine Weile lang fiel es ihr leichter, durch den Mund zu atmen.
„Ich weiß es nicht", brachte sie stockend hervor. „Aber wenn Winter irgendwo in diesem Sturm gewesen wäre, hätte er uns sicher gesehen. Er wäre nicht einfach an uns vorbeigelaufen. Oder geflogen. Oder was auch immer." Wie betäubt klopfte sie sich den Schnee vom Kleid. Sie war völlig durchgefroren, und an ihren Knien war der Stoff fast steif. „Wird Zeit, dass wir Sommer finden."
„Wir?", fragte die Königin alarmiert.
Merle nickte. „Ohne sie werden wir erfrieren. Und dann spielt es keine Rolle mehr, ob dein Sohn erwacht oder nicht."
„Die Sphinxe", sagte Vermithrax, „sie sind erfroren, nicht wahr? Deshalb gibt es hier unten keine mehr. Die Kälte hat sie getötet."
Merle glaubte nicht, dass es so einfach war. Aber manchmal spielte das Schicksal einem Streiche.
Und warum konnte es zur Abwechslung nicht einmal die andere Seite treffen?
Der Obsidianlöwe setzte sich wieder in Bewegung. Er stapfte durch den hohen Schnee, fand aber mühelos die Stufen und lief erstaunlich sicher. Schon ein wenig Nässe konnte die Spiegelböden des Eisernen Auges in
Rutschbahnen verwandeln; im Augenblick mussten sie deshalb für den Schnee beinahe dankbar sein, denn er federte die Schritte des Löwen ab und verhinderte, dass seine Pranken auf dem vereisten Glasboden abglitten.
„Der Sturm ist auf jeden Fall von Winter gekommen", sagte Merle nach einer Weile. „Obwohl ich nicht glaube, dass er selbst irgendwo da drinnen war. Aber das hier muss der richtige Weg sein." Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Vermithrax, hat Andrej gesagt, wo der Sohn der Mutter hingebracht wurde?"
„Falls er's gesagt hat, dann auf Russisch."
Und du?, wandte Merle sich an die Königin. Weißt du, wo er ist?
„Nein."
Vielleicht dort, wo auch Sommer ist?
„Wie kommst du -" Die Königin brach ab und sagte stattdessen: „Du glaubst wirklich, dass mehr hinter Sommers Verschwinden steckt, oder?"
Burbridge hat Winter irgendetwas erzählt, dachte Merle. Deshalb sucht Winter sie hier im Eisernen Auge. Und wenn Sommer etwas mit der Macht des Imperiums zu tun hätte?
„Du denkst an die Sonnenbarken?"
Zum Beispiel. Aber auch an die Mumien. An alles, das sich nur durch Magie erklären lässt. Warum haben die Priester den Pharao nicht schon vor hundert Jahren erweckt? Oder vor fünfhundert?
Vielleicht weil sie erst durch Sommer die Kraft dazu gewonnen haben! Sie nennen es Magie, aber vielleicht ist es in Wahrheit etwas ganz anderes. Maschinen, die wir nicht kennen, und die mit einer Kraft betrieben werden, die sie irgendwie ...
ich weiß nicht, von Sommer stehlen. Du selbst hast es gesagt: Seth ist kein mächtiger Magier. Er mag ein paar Illusionen beherrschen, aber echte Zauberei? Er ist ein Wissenschaftler, genau wie alle anderen Horuspriester. Und wie Burbridge. Die Einzigen, die tatsächlich etwas von Zauberei verstehen, sind die Sphinxe.
Die Königin dachte nach. „Sommer als eine Art lebender Ofen?"
Wie die Dampföfen in den Fabriken, dachte Merle, draußen auf den Laguneninseln.
„Das klingt ziemlich verrückt."
Genau wie Göttinnen, die durch einen Mondstrahl ein ganzes Volk in die Welt setzen.
Diesmal spürte sie, wie die Königin lachte. Leise und unterdrückt, aber sie lachte. Nach einer Weile sagte sie: „Die Subozeanischen Reiche haben solche Maschinen besessen. Niemand weiß genau, wie sie betrieben wurden.
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