Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
„Ja", nichts sonst. Und machte sich auf den Weg.
Er ging nun schon geraume Zeit hinter ihr her, beinahe lautlos. Nur hin und wieder stieß das Schwert in seinem Gürtel mit der Spitze gegen eine Spiegelkante, und das Kreischen, das es verursachte, raste wie ein Alarmruf durch das gläserne Labyrinth der Spiegelwelt. Aber es war keiner da, der es hätte hören können; falls doch, so zeigte sich niemand, nicht einmal die Schemen.
Junipa fragte Seth nicht, was er vorhatte. Zum einen, weil sie es ahnte. Zum anderen, weil er ihr ohnehin keine Antwort gegeben hätte.
Vorhin, als sie mit Merle aus dem Spiegel ins Eiserne Auge getreten war, hatte sie wieder den Griff des Steinernen Lichts gespürt. Ein teuflischer Schmerz war in ihrer Brust aufgeflammt, gerade so, als versuchte jemand von innen heraus ihre Rippen wie Gitterstäbe auseinander zu biegen. Das Bruchstück des Steinernen Lichts, das man ihr in der Hölle eingesetzt hatte, brachte sich mit Nachdruck in Erinnerung. Früher oder später würde es wieder Macht über sie gewinnen, wenn sie die Spiegelwelt verließ, oder auch erst allmählich, wenn sie begann, sich sicher zu fühlen. Der Stein in ihrer Brust war gleichermaßen Drohung und düsteres Versprechen.
Hinter den Spiegeln ging es ihr besser, der Schmerz war fort, der Druck verschwunden. Ihr Herz aus Stein schlug nicht, aber irgendwie hielt es sie am Leben, mochte der Teufel wissen, auf welche Weise -
und, ja, er wusste es bestimmt.
In Anbetracht ihrer Situation schien ihr die Bedrohung durch den Horuspriester weit weniger schlimm. Vor Seth konnte sie davonlaufen, oder konnte es wenigstens versuchen - vor dem Licht aber gab es kein Entrinnen. Zumindest nicht in ihrer Welt. Das Licht mochte für eine Weile das Interesse an ihr verlieren, so wie nach ihrer Flucht aus der Hölle, aber es war immer da. Immer bereit, sie an sich zu reißen, sie zu beeinflussen und auf ihre Freunde zu hetzen.
Nein, es war gut, dass sie nicht bei Merle im Eisernen Auge war. Sie begann, sich in der Spiegelwelt wohl zu fühlen. Alles in diesem Labyrinth aus Silberglas war irgendwie vertraut. Ihre Augen führten sie, ließen sie sehen, wo niemand sonst sah, und das machte ihr erst bewusst, wie sehr Seth sich ihr ausgeliefert hatte. Vermutlich war er sich selbst darüber nicht im Klaren.
Nach Venedig, dachte sie. Ja, sie würde ihn nach Venedig bringen, wenn er es wollte.
Genau wie in der Hölle gab es auch in der Spiegelwelt keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
Nur ab und an schien auf der anderen Seite einzelner Spiegel die Dunkelheit hereinzubrechen oder der Morgen zu dämmern; dann veränderte sich der Schein des Silbers, das Flirren der Farben. Ihr Licht fiel auch auf Junipa und Seth und tauchte die beiden mal in diesen, mal in jenen Farbton, von dunklem Türkis bis zu milchigem Limonengelb. Einmal drehte Junipa sich zu dem Priester um und sah, wie sich flammendes Rot aus einem Spiegel über seine Miene ergoss und seinen kriegerischen, entschlossenen Ausdruck verstärkte. Dann wieder beschien ihn sanftes Himmelblau, und die Härte seiner Züge zerfloss.
An diesem Ort zwischen den Orten gab es noch viele Wunder zu erforschen. Das Rätsel der Farben und ihrer Wirkung war nur eines von ungezählten Mysterien.
Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie viel Zeit vergangen war, ehe sie ihr Ziel erreichten. Sie sprachen nicht darüber. Es waren mehrere Stunden, gewiss. Aber während hinter dem einen Spiegel nur Augenblicke verstrichen, waren es hinter dem nächsten vielleicht Jahre. Noch ein Geheimnis, noch eine Herausforderung.
Seth blieb neben ihr stehen und betrachtete den Spiegel, der sich vor ihnen erhob. „Ist er das?"
Sie fragte sich, ob der Priester wirklich nur von Grimm erfüllt war oder ob es da nicht auch ein wenig Furcht gab, eine Spur von Unsicherheit angesichts der Erhabenheit der Umgebung. Aber Seth verriet nichts über das, was in ihm vorging. Er verbarg sein wahres Wesen hinter Zorn und Verbitterung, und sein einziger Antrieb war der Wunsch nach Rache.
„Ja", sagte sie, „dahinter liegt Venedig. Die Gemächer des Pharaos im Dogenpalast."
Er berührte mit flacher Hand die Spiegelfläche, als hoffte er, sie auch ohne Junipa und das Gläserne Wort durchdringen zu können. Er beugte sich vor, hauchte dagegen und rieb seinen Atem mit dem Handballen fort, als entferne er einen Schmutzfleck. Doch falls da ein Fleck gewesen war, so war es nur der Hass in ihm, etwas, das sich nicht einfach fortwischen
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