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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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aufgehalten. Vor der Wand hatten ihn die Gefährten aus der Entfernung für eines der zahllosen Spiegelbilder gehalten.
    Jetzt wurden sie eines Besseren belehrt.
    „Runter!", flüsterte Lalapeja scharf. „Er hat uns noch nicht bemerkt!"
    Alle folgten der Anweisung. Merles Gelenke fühlten sich an, als wären sie zu Eis erstarrt. Vermithrax hatte vor Erregung das Obsidianhaar seiner Mähne aufgerichtet und alle Krallen ausgefahren, bereit für den letzten, den größten aller Kämpfe.
    Vielleicht den kürzesten.
    Was an den Sphinxen ästhetisch, fast perfekt wirkte, schien beim Sohn der Mutter verschoben, verkantet, verzerrt zu sein. Von der muskulösen Menschenbrust bis zum Löwenhinterteil maß der Sphinxgott einige Dutzend Meter. Seine Hände hatten groteske, knotige Finger, zudem viel zu viele davon, fast wie Spinnenleiber, groß genug, um Merle und ihre Gefährten mit einem einzigen Schlag zu zermalmen. Seine Krallen waren gelb und ließen sich nicht einziehen. Bei jedem Schritt stanzten sie Reihen von metertiefen Kratern in den Spiegelboden des Doms. Die vier Löwenbeine und die beiden menschlichen Arme waren zu lang und hatten zu viele Gelenke, angewinkelt und gestreckt von Muskelsträngen, die seltsam falsch unter Fell und Haut lagen, so als hätte der Sohn der Mutter weit mehr davon als jeder andere Sphinx.
    Und dann sein Gesicht.
    Die Augen waren zu klein für seine Größe und leuchteten im gleichen Glanz wie das Steinerne Licht.
    Seine Wangenknochen standen unnatürlich weit vor, und seine Nasenflügel waren höhlengleiche Nüstern. Seine Stirn glich einer Steilwand voller Furchen und Narben, die längst vergessenen Schlachten entstammten. Das Gebiss hinter den schuppigen Lippen war ein Wall aus Stalaktiten und Stalagmiten, der Eingang einer stinkenden Grotte, deren Atemstöße als purpurne Wolken Gestalt annahmen. Nur sein Haar war seidig und glänzend, voll und lang und vom allertiefsten Schwarz.
    Merle wusste, dass sie alle denselben Gedanken hatten: Es hatte keinen Sinn mehr. Nichts und niemand konnte gegen eine solche Kreatur bestehen. Schon gar nicht die zierlichen Löwin, die dort unten in der Tiefe leblos auf dem Altar lag.
    „Ich hatte beinahe vergessen, wie gefährlich er ist", sagte die Königin tonlos.
    Großartig, dachte Merle bitter. Genau das wollte ich hören.
    „Oh", erwiderte die Königin eilig, „ich kann ihn besiegen! Ich habe es schon einmal geschafft."
    Das ist ziemlich lange her.
    „Da hast du wohl Recht."

    Die Königin schien einiges von ihrem Optimismus verloren zu haben, den sie während der vergangenen Stunden immer dann zur Schau gestellt hatte, wenn es um den Kampf mit dem Sohn der Mutter ging. Die Königin war eingeschüchtert, ob sie es zugeben wollte oder nicht. Und ganz tief in sich spürte Merle eine Furcht, die nicht ihre eigene war. Die Fließende Königin hatte Angst.
    „Was hat er vor?", flüsterte Vermithrax mit trockener Stimme.
    Der Sohn der Mutter ging vor dem grotesken Standbild Sekhmets auf und ab, mal schneller, mal schleichend, wie ein Jäger, der seine Beute umkreist. Sein Blick war auf den winzigen Körper zu Füßen der Statue gerichtet, den versteinerten Löwenkadaver, der ihn weit mehr zu beunruhigen schien als die Wassermassen, die den Spiegeldom bald überfluten würden.
    „Er weiß nicht, was er tun soll", wisperte Lalapeja. Sie hatte ihre bandagierten Hände bis an die Kante der Balustrade geschoben. Sie musste immer noch Schmerzen haben, aber sie zeigte sie nicht.
    „Seht doch, wie nervös er ist. Er weiß, er müsste eine Entscheidung treffen, aber er wagt es nicht, den letzten Schritt zu tun."
    „Welchen letzten Schritt?", fragte Vermithrax.
    „Den Körper seiner Mutter zu zerstören", sagte Serafin. „Deshalb ist er doch hier. Er wil Sekhmet ein für alle Mal auslöschen, damit es ihm nicht noch einmal so ergeht wie damals."
    „Ja", sagte die Fließende Königin zu Merle. „Wir müssen uns beeilen."
    Merle nickte. „Vermithrax, du musst mich dort runterbringen."
    Der Obsidianlöwe hob eine buschige Augenbraue. „An ihm vorbei?"
    „Wir haben keine Wahl, oder?"
    Die Fließende Königin hatte noch kein Wort darüber verloren, auf welche Weise sie von Merles Körper zurück in ihren eigenen Leib wechseln wollte. Jetzt aber, so abrupt wie ein unverhoffter Geistesblitz, kam Merle der Gedanke, dass offenbar darin das letzte Geheimnis der Königin lag. Das war es, was sie die ganze Zeit über vor ihr verborgen hatte.
    Gut, dachte Merle,

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