Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Himmel zu halten, unter Aufbietung all ihrer Sphinxmagie. Doch die Versuche waren vergebens. Jene, die lebend aus rauchenden, verbogenen Stahltrümmern krochen, wurden von ihren menschlichen Sklaven erschlagen.
Nur wenigen gelang es, in Wäldern und Höhlen Unterschlupf zu finden, ohne Hoffnung, je wieder gefahrlos ins Tageslicht treten zu können.
Die Welt veränderte sich. Nicht schleichend, nicht zaghaft. Die Wandlung war ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, ein Blitz in allertiefster Nacht. Was über Jahrzehnte hinweg unterdrückt und zerstört worden war, brach wie eine Blume durch Asche und Stein, entwickelte Triebe, streckte und reckte sich, erblühte zu Widerstand und neuer Kraft.
Und während auf allen Kontinenten das Leben neu erwachte, taute in der ägyptischen Wüste der Schnee.
Winter war mit Sommer zurückgeblieben, am Rande des Abgrunds, wo der Steg in die Wand aus Spiegelstahl mündete. Sommer war noch immer zu geschwächt, um Merle und die anderen in ihrem Kampf zu unterstützen. Doch nicht einmal im Vollbesitz ihrer Kräfte hätten sie oder Winter eine Chance gegen den Sohn der Mutter gehabt.
Merle klammerte sich mit beiden Händen an Vermithrax' Mähne fest. Der Obsidianlöwe trug sie rasend schnell durch die Bogengänge, die Hallen und Treppenschächte des Eisernen Auges. Um sie herum lief Wasser von den Wänden, zerschmolzen Schneedünen und Eiszapfen zu Rinnsalen und Seen.
Serafin saß hinter Merle, während Lalapeja ihnen in raschem Galopp durch die Spiegelkorridore folgte.
„Und sie ist sicher", rief Serafin Merle ins Ohr, „dass ihr Körper irgendwo in der Festung aufbewahrt wird?"
„Das hat sie gesagt."
„Und sie weiß auch, wo?"
„Sie sagt, sie spürt ihn - schließlich war er mal ein Teil von ihr."
Die Königin meldete sich erneut zu Wort. „Dieser ungezogene Bengel redet von mir, als wäre ich gar nicht anwesend."
Bist du auch nicht, entgegnete Merle. Zumindest nicht für ihn. Wie weit ist es noch?
„Wir werden sehen."
Das ist nicht fair.
„Ich weiß es genauso wenig wie du. Die Präsenz meines früheren Körpers erfüllt alle unteren Stockwerke der Festung, genau wie die Anwesenheit des Sohns der Mutter. Sie müssen beide ganz in der Nähe sein."
Die Dinge näherten sich ihrem Ende - einem Ende. Merle musste sich eingestehen, dass ihr das alles längst über den Kopf gewachsen war. Seit Seth in der Spiegelkammer Junipa entführt hatte, war so vieles passiert, und sie fühlte sich schon längst nicht mehr in der Lage, den Dingen eine Ordnung zu geben. Allein Serafin und die Nähe von Vermithrax und Lalapeja gaben ihr ein vages Gefühl von Sicherheit. Sie wünschte sich, dass auch Winter an ihrer Seite geblieben wäre.
Aber er weigerte sich, Sommer zurückzulassen, war wieder versunken in seiner eigenen Übermenschlichkeit. Die Jahreszeiten würden weiter bestehen, ganz gleich, was aus der Welt wurde, die sie immer wieder mit Eis und Hitze und Herbstlaub überzogen. Vermithrax hatte sein Leben für Sommer aufs Spiel gesetzt, aber gedankt hatte ihm niemand dafür. Merle war wütend auf Winter. Seine Hilfe hätten sie gut gebrauchen können - was auch immer die Königin plante.
Du hast doch einen Plan, nicht wahr?, fragte sie in Gedanken, doch wie üblich bei unangenehmen Fragen erhielt sie keine Antwort.
Auf ihrem Weg kamen sie an kristallisierten Sphinxen vorüber, zu milchigem Eis erstarrt, als Winter sie auf seinem Irrweg durch die Feste gestreift hatte. Von ihren starren Körpern tropfte Wasser auf die Spiegelböden. Merle konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie sich seit Stunden durch ein gigantisches, spiegelndes Mausoleum bewegten.
Serafin gingen dieselben Gedanken im Kopf herum. „Schon seltsam", sagte er, als sie eine Gruppe vereister Sphinxleichen passierten. „Sie sind zwar unsere Feinde, aber das hier ... ich weiß nicht..."
Merle verstand, was er sagen wol te. „Es fühlt sich irgendwie falsch an, oder?"
Er nickte. „Vielleicht, weil es immer falsch ist, wenn so viele Lebewesen einfach aufhören zu sein."
Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Ganz egal, was sie getan haben."
Merle schwieg einen Moment, um über seine Worte nachzudenken. Sie kam zu einem erschütternden Ergebnis. „Sie tun mir nicht Leid. Ich meine, ich gebe mir Mühe ... aber es geht nicht. Sie tun mir einfach nicht Leid. Dafür ist zu viel passiert. Sie haben Millionen von Menschen auf dem Gewissen." Beinahe hätte sie „Mil iarden" gesagt, aber ihre Zunge
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