Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
schlechter Kerl. Auch wenn er nicht begriff, nicht begreifen konnte, was sie tun musste.
„Wir haben keine Zeit mehr", sagte die Fließende Königin. „Der Sohn der Mutter wird seine Scheu bald überwunden haben und meinen Körper zerstören. Und dann ist es zu spät."
Merle ließ Junipa los. „Ich muss jetzt gehen."
„Nein!" Junipas Spiegelaugen füllten sich mit Tränen. Dabei hatte Merle doch geglaubt, Junipa könne gar nicht mehr weinen.
Sie griff in die Tasche ihres Kleides und zog den magischen Wasserspiegel hervor. Sie drehte sich um und reichte ihn Lalapeja. „Hier, ich denke, das ist deiner. Der Schemen darin ... versprich mir, ihn freizulassen, wenn ihr heil hier herauskommt."
Lalapeja nahm den Spiegel entgegen, ohne ihn anzusehen. Ihr Blick war fest auf ihre Tochter gerichtet. „Tu es nicht, Merle."
Merle umarmte sie. „Leb wohl." Ihre Stimme drohte in Tränen zu ersticken, doch sie hatte sich rasch wieder in der Gewalt. „Ich habe immer gewusst, dass es dich gibt, irgendwo."
Lalapejas Gesicht war bleich und starr. Sie konnte nicht glauben, dass sie die Tochter, die sie gerade erst gewonnen hatte, so bald wieder verlieren sol te. „Es ist deine Entscheidung, Merle." Sie lächelte nervös. „Das ist doch der Fehler, den alle Eltern machen, oder? Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihre Kinder eigene Entscheidungen treffen können. Aber so wie es aussieht, lässt du mir keine andere Möglichkeit."
Merle blinzelte ihre Tränen fort und umarmte ihre Mutter ein letztes Mal. Dann trat sie vor Unke und die anderen, sagte auch ihnen Lebewohl, wich abermals Junipas unglücklichem Blick aus und ging schließlich zu Serafin hinüber.
Im Hintergrund schnaubte und schabte der Sohn der Mutter in der Tiefe des Spiegeldoms. Sein Toben klang immer zorniger, immer ungeduldiger.
Serafin nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich will nicht, dass du das tust."
Sie lächelte. „Ich weiß."
„Aber das ändert nichts, oder?"
„Nein ... nein, ich schätze, nicht." „Wir hätten damals nicht in dieses Haus gehen sollen. Dann wäre das alles nicht passiert."
Merle spürte die Wärme, die von ihm ausging. „Hätten wir die Königin nicht vor den Ägyptern gerettet
... wer weiß, was passiert wäre. Vielleicht sähe dann alles noch viel schlimmer aus."
„Aber wir hätten uns beide."
„Ja." Sie lächelte, mit flatternden Mundwinkeln wie Flügel eines Schmetterlings. „Das wäre schön gewesen."
„Ich pfeif auf den Rest der Welt."
Merle schüttelte den Kopf. „Das tust du nicht, und das weißt du genau. Nicht einmal Dario meint ernst, was er vorhin gesagt hat. Vielleicht jetzt. Vielleicht auch noch morgen. Aber irgendwann wird er anders darüber denken. Genau wie du. Der Schmerz lässt nach. Das tut er immer."
„Lass mich gehen", sagte er eindringlich. „Wenn es möglich ist, dass die Königin auf mich überspringt, dann kann sie meine Lebenskraft nehmen, um ihren Körper zu erwecken."
„Warum sollte ich bei dir Ja sagen, wenn ich bei Junipa Nein gesagt habe?"
„Weil... weil du dann für Junipa da sein könntest. Sie ist deine Freundin, oder?"
Sie lächelte und stupste mit ihrer Nase an seine. „Guter Versuch." Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Lippen, ganz kurz nur, und zog sich von ihm zurück.
„Was er sagt, ist richtig, Merle", sagte die Königin niedergeschlagen. „Ich könnte auf ihn überwechseln und -"
Nein, dachte Merle und wandte sich zu Vermithrax um. „Es wird Zeit."
Die riesigen Obsidianaugen des Löwen glitzerten. „Ich gehorche dir. Bis zuletzt. Aber du sollst wissen, dass das hier nicht mein Wunsch ist."
„Du musst mir nicht gehorchen, Vermithrax. Ich bin nur irgendein Mädchen. Deshalb siehst du es ein, oder? Du weißt, dass ich Recht habe." Auch Vermithrax war einmal bereit gewesen, sich für sein Volk zu opfern. Falls überhaupt jemand sie verstehen konnte, dann er.
Betrübt senkte er sein Haupt und schwieg. Merle stieg auf seinen Rücken und streckte sich, um über die Kante hinweg einen Blick in den Abgrund zu erhaschen. Sie sah den Sohn der Mutter mit langsamen Schritten auf das Standbild zugehen. Er näherte sich Sekhmets aufgebahrtem Leichnam und scharrte dabei noch stärker mit den Krallen. Unter der Wasseroberfläche zerbarst der Spiegelboden zu Gestirnen aus Silberglas.
Merle blickte sich ein letztes Mal zu den anderen um, während der Löwe auf die Balustrade zuging und seine Schwingen entfaltete.
Junipa starrte weinend
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