Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
weigerte sich, die Wahrheit in Worte zu fassen.
Wie eine Prozession rauschten die gefrorenen Sphinxkörper an ihnen vorüber, bildeten bizarre Säulenhallen aus Eiskadavern. Um viele hatten sich bereits weite Pfützen gebildet. Das Tauwetter, das durch die Vereinigung von Sommer und Winter entstand, machte sich auch in den unteren Stockwerken breit.
Lalapeja hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Merle wurde das Gefühl nicht los, dass ihre Mutter sie beobachtete, so als versuchte sie, sich ein Bild von ihrer Tochter zu machen, das über den einfachen Anblick hinausging. Als erforschte sie mit ihren Augen auch Merles Inneres, ihr Herz. Vermutlich lauschte sie auf jedes Wort, das Merle sagte.
„Jetzt weiß ich's!", platzte die Königin heraus. „Ich weiß, warum sich mein Körper und der Sohn der Mutter derart überlagern. Warum es so schwer ist, sie auseinander zu halten."
So?
„Sie sind beide hier."
In der Festung? Aber das wissen wir doch längst.
„Dummchen! An einem einzigen Ort. In einer Halle." Kurzes Schweigen, dann: „Direkt vor uns!"
Merle wollte die anderen warnen, doch das erledigte sich von selbst. Schlagartig blieb Vermithrax stehen, als sich aus dem Spiegel- und Eispanorama ein messerscharfer Umriss schälte, eine horizontale Linie - die Kante einer breiten Balustrade. Und dahinter, abermals ... ein Abgrund.
Langsam tastete sich der Löwe vorwärts, Lalapeja an seiner Seite.
„Was ist das?", flüsterte Serafin.
Merle konnte die Antwort nur ahnen: Sie waren auf das Herz des Eisernen Auges gestoßen, auf den Tempel der Löwengöttin.
Sekhmets Heiligtum. Die Gruft der Fließenden Königin.
Merle und Serafin sprangen von Vermithrax' Rücken und gingen an der Kante auf die Knie. Serafins Hand schob sich über Merles. Sie schenkte ihm ein Lächeln und umschloss seine Finger mit festem Griff. Wärme kroch an ihrem Arm herauf und elektrisierte sie. Nur widerwillig löste sie ihren Blick von ihm, um hinaus in den Abgrund zu sehen.
An der gegenüberliegenden Wand der Halle - denn eine Halle war es, wenn auch von Ausmaßen, mit denen es kein menschliches Bauwerk, kein Thronsaal, kein Dom aufnehmen konnte - stand das riesenhafte Standbild einer Löwin, höher als Venedigs Markuskirche. Es war aus Stein, mit gefletschten Raubtierfängen, jeder einzelne so lang wie ein Baum. Ihr Blick wirkte dunkel und niederträchtig, die Augen waren in tiefen Schatten versunken. Auf jeder ihrer Krallen steckte, aus Fels gehauen, das Abbild eines aufgespießten Menschen, so beiläufig wie Schmutz zwischen ihren Pranken.
In den Spiegelwänden des Doms wurde das Standbild mehrfach reflektiert, wieder und wieder, sodass es schien, als stünde dort nicht eine einzige Statue Sekhmets, sondern ein ganzes Dutzend oder mehr.
„Das bist du gewesen?", entfuhr es Merle.
„Sekhmet", widersprach die Königin bedrückt, „nicht ich."
„Aber ihr seid ein und dieselbe!"
„Das waren wir einmal." Ihr Tonfall wurde verbittert. ,Aber so, wie mich die Sphinxe darstellen, war ich nie. Als ich noch Sekhmet hieß, verehrten sie mich als eine Göttin - aber nicht als das da!" Abscheu lag jetzt in ihrer Stimme. „Seit damals haben sie anscheinend einen Dämon aus mir gemacht. Schau dir die Toten auf den Krallen an. Ich habe nie Menschen getötet. Aber sie behaupten es, weil es zu ihren Plänen passt. ,Sekhmet hat es getan', sagen sie sich, ,darum können wir es auch tun.' Es ist wie mit allen Göttern, die sich nicht mehr wehren können - ihre Anhänger formen sie so, wie es ihnen gerade passt. Nach der Wahrheit fragt mit der Zeit keiner mehr."
„Das hier muss der tiefste Punkt des Eisernen Auges sein", meldete sich Serafin zu Wort. „Da unten, seht doch."
Aus allen Zugängen des gewaltigen Spiegeldoms plätscherten und gurgelten Wasserläufe in die Halle, manche nur schmale Rinnsale, andere breit wie Bäche.
Lalapeja beugte sich vorsichtig ein Stück weiter vor und schaute an der Kante des Abgrunds hinunter. „Das alles hier wird bald überschwemmt sein, wenn der Schnee in den oberen Ebenen erst völlig geschmolzen ist."
Vermithrax konnte seinen Blick noch immer nicht von dem turmhohen Standbild wenden. „Ist das ihr Körper?"
Merle hatte im ersten Moment denselben Gedanken gehabt, wusste es jetzt aber besser. „Nein, nur eine Statue."
„Wo ist dann ihr richtiger Körper?"
„Dort drüben", sagte die Königin in Merles Kopf. „Schau rechts an den Vorderpranken vorbei. Siehst du das niedrige Podest? Und das, was
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