Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
darauf liegt?"
Merle blinzelte angestrengt und versuchte, etwas zu erkennen. Es war weit bis dorthin. Der Boden der Halle lag tief unter ihnen, die Balustrade verlief im oberen Drittel an der Wand. Was immer die Königin auch meinte, sie würden es nur mit Vermithrax' Hilfe erreichen können.
Merle entdeckte das Podest, als sie gerade aufgeben wollte. Sie sah auch den Körper, der darauf lag. Ausgestreckt auf der Seite, mit vier Pfoten, die in ihre Richtung wiesen. Eine Raubkatze. Eine Löwin. Sie war nicht größer als ein gewöhnliches Tier; im Gegenteil, sie erschien Merle viel zierlicher, beinahe zerbrechlich. Ihre Oberfläche war grau, wie eingestaubt - oder versteinert.
Merle machte die anderen auf ihre Entdeckung aufmerksam.
„Sie ist aus Stein", knurrte Vermithrax. Es klang, als fühlte er sich ein wenig geschmeichelt.
„Das bin ich nicht immer gewesen", sagte die Königin mit Merles Stimme, sodass alle es hören konnten. „Als ich diesen Körper abgelegt habe, war er aus Fleisch und Blut. Er muss in all den Jahrtausenden zu Stein erstarrt sein. Ich habe das nicht gewusst."
„Das könnte an der Berührung des Steinernen Lichts liegen", sagte Lalapeja nachdenklich.
„Ja", stimmte die Königin zu, „möglich."
Serafin hielt immer noch Merles Hand. Er blickte zwischen ihr und dem schmalen Löwenkörper in der Tiefe hin und her. Von allen Seiten strömte Schmelzwasser in die Tempelhalle. Es kam ihnen vor, als gurgelte es mit jeder Minute ein wenig lauter, heftiger, zorniger. Nicht alle Öffnungen in den Wänden befanden sich auf Bodenhöhe; manche lagen, wie die Balustrade, Dutzende Meter hoch, und das Wasser stürzte mit enormer Kraft in den Abgrund. Auch auf dem Sims, auf dem sie sich befanden, taute das Eis und umgab sie alle mit Schneematsch und flachen Wasserpfützen. Hier und da tröpfelte es bereits über die Kante in die Tiefe.
„Wir müssen dort runter." Die Königin klang düster und unheilschwanger. Und einmal mehr wurde Merle bewusst, dass sie etwas vor ihr verbarg. Den letzten Teil der Wahrheit. Vermutlich den unangenehmsten.
Sag schon, verlangte sie in Gedanken, was ist es?
Die Königin zögerte. „Wenn es so weit ist."
Nein! Jetzt!
Das Zögern dehnte sich, wurde zu zähem Schweigen.
Was, verdammt, ist los? Merle versuchte, so fordernd wie möglich zu klingen - was gar nicht so einfach war, wenn man die Worte nur im Kopf formt, nicht mit dem Mund.
„Wir können jetzt nicht alles infrage stel en."
Davon redet ja auch niemand.
„Bitte, Merle. Es ist auch so schon schwer genug."
Merle wollte zu einer Erwiderung ansetzen, als Serafin mit einem Ruck an ihrer Hand zog.
„Merle!"
Angespannt wirbelte sie herum. „Was ist?"
„Irgendwas stimmt da unten nicht!"
„Ganz und gar nicht", pflichtete Vermithrax ihm bei.
Lalapeja schwieg. Sie war starr vor Schreck.
Merle folgte den Blicken der anderen in die Tiefe.
Zuerst schien alles unverändert. Das riesenhafte Standbild der dämonischen Sekhmet; daneben, viel kleiner, ihr regloser Körper auf dem Podest; und überall um sie herum das Wasser, das aus den Hallen und Gängen des Eisernen Auges herabfloss und den Boden bedeckte.
Keine Neuankömmlinge. Keine Sphinxe weit und breit.
Die Spiegelbilder! Die Reflexionen der mächtigen Statue waren in Bewegung geraten. Bei flüchtigem Hinsehen mochte es an den Vorhängen aus Wasser liegen, die sich die Wände herab ergossen und die Spiegelungen verzerrten und verschoben. Doch dann wurde aus sanftem Beben und Zittern ein lautstarkes Donnern. Riesenhafte Gliedmaßen spannten und streckten sich. Ein titanischer Leib erwachte aus seiner Starre.
Merle hatte das Gefühl, als stürze sie kilometertief in einen Abgrund aus Silber. Alles um sie herum drehte sich für einen Moment, immer schneller. Ihr wurde übel vor Schwindel. Erst allmählich schälte sich die Wahrheit aus dem Wirbel aus Eindrücken.
Nur ein Teil der Spiegelungen stammte tatsächlich von dem Standbild, und diese blieben weiterhin reglos. Der Rest aber reflektierte ein Wesen, das mit der Statue nur die Größe und einen Teil des Löwenleibs gemein hatte.
Serafins Hand krallte sich um Merles Finger. Er hatte diese Kreatur schon einmal gesehen, als die Magie des ägyptischen Sammlers sie aus den Trümmern der Friedhofsinsel San Michele gezerrt hatte.
Der Sohn der Mutter - der Größte aller Sphinxe, hässlich und missgestaltet wie ein Zerrbild all jener, die ihn verehrten - hatte sich die ganze Zeit über im Tempel
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