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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zu ihr herauf. Sie sah aus, als wollte sie jeden Moment loslaufen, um Vermithrax aufzuhalten. Merle lächelte ihrer Freundin zu und schüttelte sanft den Kopf. „Nicht", flüsterte sie.
    Unke richtete sich mühsam im Griff der beiden Jungen auf, ungeachtet ihres gebrochenen Unterschenkels. Dass gerade sie, die ohne Beine auf die Welt gekommen war, von einem verletzten Bein am Eingreifen gehindert wurde, war von allen Ironien des Schicksals vielleicht die bösartigste.
    Auch die Jungen blickten Merle betroffen hinterher. Dario presste die Kiefer so fest aufeinander, als wollte er mit seinen Zähnen Eisen zermahlen. Tiziano blinzelte und kämpfte erfolglos gegen eine einzelne Träne, die ihm über die Wange lief.
    Lalapeja wirkte seltsam verschwommen, so als sei ihr Körper gerade im Wechsel zwischen Mensch und Sphinx gefangen. Sie nahm den Blick nicht von ihrer Tochter, und zum ersten Mal hatte Merle wirklich das Gefühl, dass Lalapeja keine Fremde mehr war, keine ferne Hand im Inneren ihres Wasserspiegels. Sie war ihre Mutter. Sie hatten sich endlich gefunden.
    Vermithrax erreichte die Balustrade. Seine Schwingen hoben und senkten sich zweimal rasch hintereinander, als müsste er erst ausprobieren, ob sie ihm gehorchten.
    Selbst er will nur Zeit gewinnen, dachte Merle gerührt. Guter, alter Vermithrax.
    „Es ist so weit", sagte die Königin alarmiert. „Er wird meinen Körper gleich zerstören."
    Vermithrax' Vorderpranken lösten sich vom Boden.
    Hinter ihnen ertönte ein Ruf. Jemand schrie Merles Namen.
    In der Tiefe bemerkte der Sohn der Mutter aus dem Winkel seiner dunklen Augen die Bewegung. Er fuhr herum und bemerkte den Obsidianlöwen auf der Kante. Ein urzeitliches Brüllen drang aus seinem Schlund, das die Spiegelwände erbeben und das Wasser am Boden schäumen ließ.
    Serafin sprintete hinter Vermithrax her. In dem Moment, als der Löwe sich in die Luft erheben wollte, stieß auch Serafin sich ab, prallte mit beiden Handflächen auf Vermithrax' Hinterteil, bekam irgendwie seinen Pelz zu fassen und zog sich hoch. Mit einem Mal saß er schwankend hinter Merle. „Ich komme mit! Egal wohin - aber ich komme mit!"
    Der Sohn der Mutter schrie noch lauter, als Vermithrax steil auf ihn herabstieß, ungeachtet des zweiten Reiters auf seinem Rücken. Es war zu spät, um umzukehren, nun, da die Bestie auf sie aufmerksam geworden war. Sie konnten es nur noch so schnell wie möglich zu Ende bringen.
    Irgendwie.
    „Du bist verrückt!", brüllte Merle über ihre Schulter, während sie im Sturzflug abwärts sausten.
    „Deshalb passen wir zusammen, oder?", schrie Serafin ihr ins Ohr und konnte doch kaum den Gegenwind und das Tosen der Wassermassen übertönen. Die Welt versank in Lärm und Sturm und flirrendem Silber.
    Vermithrax raste auf den mächtigen Schädel des Sohns der Mutter zu, im Verhältnis dazu klein wie ein Insekt und doch ein beeindruckender Anblick, gebadet in die Lavaglut des Steinernen Lichts und seinerseits brüllend vor Entschlossenheit und überkochender Energie.
    Hoch über ihnen drängten die anderen an die Balustrade und blickten in den Abgrund. Ihre Gesichter hatten die Farbe des Eises angenommen, das um sie herum zu Wasser zerfloss. Es spielte keine Rolle mehr, ob der Sohn der Mutter sie entdeckte. Was immer geschehen mochte - sie hatten keinen Einfluss mehr auf die Ereignisse.

    Der riesige Sphinx trat einen Schritt vom Standbild seiner Mutter zurück, drehte sich vollends um und streckte Vermithrax das aufgerissene Maul entgegen. Sein Kreischen ließ das Herz des Eisernen Auges erbeben, der hohe Spiegeldom erzitterte in seinen Grundfesten.
    Das Wasser am Boden schäumte und wogte wie in einem Hexenkessel. Die Bewegungen des Ungetüms waren in Anbetracht seiner Größe erstaunlich schnell, und es war abzusehen, dass er noch gefährlicher werden würde, wenn er erst zu seiner alten Geschicklichkeit zurückfand. Er hatte Jahrtausende starr in den Tiefen der Lagune gelegen; auf der Höhe seiner Kraft hätte er Vermithrax vermutlich mit einem einzigen Hieb getötet.
    Der Obsidianlöwe wich den vielfingrigen Klauen aus und raste auf eine der Wände zu, bis Merle sich selbst und Serafin im Spiegel erkennen konnte. Sie wurden größer und größer und zischten schließlich als greller Farbfleck vorüber, als Vermithrax kurz vor der Wand einen Haken schlug und abermals abwärts flog. Der Sphinx brüllte und tobte. Er versuchte, sie aus der Luft zu schnappen wie eine lästige Stechmücke, griff aber

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