DIE MEROWINGER: Familiengruft
nächsten Augenblick herausfallen. Der Mund, dem mittlerweile fast alle Zähne fehlten, schnappte nach Luft und nach Worten. Die zitternde linke Hand warf das Tuch ab.
Scylla ertrug den Anblick nicht mehr und sah mit verächtlicher, gelangweilter Miene zur Zeltdecke.
»Ich bitte dich, entehre dich jetzt nicht schon wieder durch Feigheit! So wie damals in Soissons, wo du angeblich Varus nacheifern wolltest. Ich habe dem König immer wieder beschrieben, mit welcher Festigkeit und Tapferkeit du dein Schicksal hinnahmst … die verheerende erste Niederlage … die Flucht nach Paris, dann von Stadt zu Stadt, von Festung zu Festung … die langen, entbehrungsreichen Jahre, in denen wir niemals wussten, was uns der nächste Tag bringen würde. Ich habe natürlich übertrieben, aber es hat Eindruck gemacht. Da dir nun einmal bestimmt ist, als Verlierer in die Annalen einzugehen, sei doch wenigstens groß im Leiden und Dulden. Im Übrigen besteht durchaus Hoffnung, dass dir die Franken nichts antun werden. Sie wollen dich nur in ihre Gewalt bringen, vielleicht in ehrenvoller Gefangenschaft halten, auf einem unserer früheren Güter. Der König ist gern bereit, an Chlodwig – obwohl er von ihm beleidigt wurde – zu schreiben und sich für dich einzusetzen. Man wird dich dann immer noch so behandeln, als ob du unter gotischem Schutz stündest.«
»Nein!«, rief Syagrius laut und entschieden, nachdem er mehrmals versucht hatte, den Redefluss der Griechin zu unterbrechen. »Nein, daraus wird nichts! Ich spiele nicht mit! Freiwillig zu den Franken? Niemals! Ich verlange vom König der Westgoten, dass er zu seinem Wort steht. Er würde sich mit Schande bedecken, wenn er zuließe, dass man mich ausliefert. Er würde von nun an vor aller Welt als Feigling und Schwächling gelten. Niemand würde ihm mehr vertrauen. Niemand würde ihn fürchten. Er hätte seine Ehre verloren. Ich werde zu ihm gehen, ich muss ihn sprechen. Ich werde ihn aufrufen, seiner würdigen Ahnen zu gedenken: seines Großvaters, des Siegers auf den katalaunischen Feldern, seines Vaters …«
»Ach, bewahre mich doch vor diesem pathetischen Unsinn!«, fiel ihm Scylla ins Wort. »Ehre und Schande, würdige Ahnen …«
»Ah, das willst du nicht hören!«, rief Syagrius mit wütendem Triumph. »Es ist dir unangenehm, denn du fühlst dich durchschaut! Man hat dich hergeschickt, um mich gefügig zu machen, damit ich blindlings in mein Verderben renne und dafür noch selber verantwortlich bin. Und der König der Westgoten kann nichts dafür, er tut sogar alles, um mein selbstverschuldetes Schicksal zu mildern!«
Der fette Mann schnellte plötzlich hoch, riss mit seiner gesunden Hand den silbernen Haarpfeil aus der Perücke der Griechin und setzte die Spitze auf ihren Hals.
»Gestehe, dass du mich wieder betrogen hast, so wie immer! Diese Idee hast du selber geboren! Gefällig sein willst du, indem du mich ihnen billig vom Leibe schaffst. Du hast Angst, hab ich recht? Du brauchst ein Opfer auf dem Altar deiner eigenen Schande. Bald kommt seine Braut, die Tochter Theoderichs. Dann sind deine Liebesdienste nicht mehr gefragt. Dann könnte die rechtmäßige Gemahlin Ekel empfinden, weil die Tochter eines kretischen Schiffskapitäns vor ihr im Bett des Königs lag. Und sie könnte versuchen, den hässlichen Fleck zu entfernen! Da ist es dann gut, wenn man eine Stellung hat. Wenn man Verdienste hat, wenn man Dankbarkeit fordern kann. Wenn man dem Reich der Goten den Frieden erhalten und dem König die Ehre gerettet hat. Was wiegt dagegen ein kleiner Verrat! Was kümmert die Hündin ihr früherer Herr, wenn sie ihr jetziger nur gut füttert und streichelt. Ist es so? Antworte!«
Scylla hatte den hilflosen Angriff ihres früheren Liebhabers mit verächtlicher Ruhe über sich ergehen lassen.
Noch immer zielte die Spitze des Silberpfeils auf ihren Hals. Doch sie fürchtete keinen Augenblick, dass sie eindringen würde.
Die Nähe des Syagrius, der einen scharfen Geruch von Vernachlässigung und Verfall ausströmte, wurde ihr aber lästig, und als er speichelsprühend sein »Antworte!« zweimal wiederholt hatte, gab sie ihm einen Stoß vor die Brust.
Es war nur ein mäßiger Stoß, doch der warf ihn gleich um. Im Fallen einen Tisch mit Metallgeschirr umstoßend, polterte er zu Boden, auf den Teppich, der das Gras der Uferwiese bedeckte.
Die Wächter am Zelteingang wurden aufmerksam und stürzten herein.
Der Pfeil, den die rechte Hand des am Boden Liegenden
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