DIE MEROWINGER: Familiengruft
war wieder Frühling – besuchte der heilige Avitus, Bischof von Vienne und Metropolit für die römischen Bistümer im Burgunderreich, seinen Amtsbruder Remigius in Reims.
Dieses Treffen auf höchster Ebene des gallischen Episkopats wurde von den beiden Oberhirten schon seit längerem als dringend notwendig erachtet. Einziges Thema der Unterhandlungen war die trübe Zukunft der römisch-katholischen Kirche in Gallien.
Der heilige Avitus war eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten jener Zeit. Er war von Adel und sogar mit dem römischen Kaiser gleichen Namens verwandt, der nach kurzer Regierung leider ein ruhmloses und gewaltsames Ende gefunden hatte. Der bischöfliche Familienzweig war zählebiger und hielt sich dauerhafter. Schon der Vater des Heiligen, Isichius, saß auf dem Stuhl des Metropoliten von Vienne, und sein Bruder Apollinaris war in Valence ebenfalls Bischof.
Avitus hatte sich große Verdienste um die Verteidigung des Glaubens erworben. Er hatte in feurigen Predigten und wortgewaltigen Briefen die Trinitätslehre gegen den Irrglauben der Arianer, Monarchianer, Adoptianer und anderer Häretiker verteidigt und sechs Bücher in Versen über den Weltanfang und andere bedeutende Gegenstände geschrieben.
Auch die Wunder, die er vollbracht hatte, konnten sich sehen lassen. Einmal war in der Nacht vor dem Osterfest, während er mit den Gläubigen die heilige Messe feierte, der königliche Palast von Vienne in Brand geraten. Panik brach aus, alle glaubten, die ganze Stadt werde abbrennen. Die Kirchgänger stürzten hinaus auf die Straße, um noch etwas von ihrer Habe zu retten. Avitus blieb allein in der Kirche. Er warf sich vor dem Altar nieder und flehte unter Seufzern und Tränen Gottes Barmherzigkeit an.
Und da geschah das Wunderbare: Die Bitte wurde höheren Ortes vernommen, und plötzlich schwoll der bischöfliche Tränenstrom derartig an, dass er hinausdrängte aus der Kirche, den Königspalast unter Wasser setzte und den Brand löschte.
Die Nachricht von dieser eindrucksvollen Löschaktion wurde sogleich von Klerikern, Mönchen und Pilgern überall in Gallien verbreitet und verlieh dem nunmehrigen Heiligen die höchste Autorität. Sein stattlicher Wuchs, sein gewaltiger, von aschblonden, himmelwärts gesträubten Haaren umwallter Schädel, seine dröhnende Stimme, seine theaterreife, überaus lebhafte Mimik und Gestik verschafften ihm außerdem, wo er ging und stand, die größte Aufmerksamkeit.
Bei der Begrüßung vor dem Bischofspalast in Reims versank der kleine, zarte Remigius in seiner brüderlichen Umarmung und hatte Mühe, sich daraus wieder hervorzuarbeiten.
Avitus galt als Feinschmecker und Liebhaber der römischen Küche, und so hatte sein Gastgeber, der sonst eher mäßig lebte, ein Spanferkel mit Sojasoße, einstmals das Lieblingsgericht des Kaisers Vitellius, anrichten lassen. Avitus lobte es sehr und verspeiste es fast allein. Dazu tranken sie einige Becher von dem Wein, den der burgundische Gast als Geschenk mitgebracht hatte.
Beim Nachtisch, gepfefferten Omeletten, kamen die beiden Heiligen dann allmählich auf ihr Problem zu sprechen.
Übereinstimmend beklagten sie die Lage. Die Römer hatten in Gallien nun endgültig abgewirtschaftet. Überall saßen die Germanen: im Westen die Goten, im Süden die Burgunder und neuerdings im Norden und in der Mitte die Franken. Seit dem Verschwinden ihres Protektors, des Kaisers, war die Kirche in großen Schwierigkeiten. Die Greuel und Metzeleien, die Vertreibungen, die Hungersnöte, die Unordnung – das alles hatte den Glauben der Menschen erschüttert. Unzählige Gotteshäuser waren niedergebrannt, fast waren alle geplündert, die Gemeinden und die Klöster lösten sich auf.
»Was kann man tun?«, fragte Avitus mit tragisch gefurchter Stirn, wobei er dem aufwartenden Diener ein Zeichen gab, seinen Becher noch einmal zu füllen. »Sind wir am Ende des irdischen Jammers? Ist überhaupt noch Rettung in Sicht? Oder ist das wirklich bereits die Apokalypse, der Anfang des Weltgerichts, die Strafe Gottes für die Sünden der Menschheit? Bedient sich der allmächtige Gott der Barbaren, um die Menschen für ihren Hochmut, ihre Gier nach Macht und Reichtum und für den Verfall der Sitten zu strafen?«
»Wir sollten im Vertrauen auf ihn die Hoffnung nicht aufgeben«, meinte Remigius. »Und ich glaube, es gibt sogar erste Anzeichen für eine Besserung der Verhältnisse.«
»Wie? Eine Besserung? Das sagst gerade du, der du nun ebenfalls
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