Die Messerknigin
dich doch mal an. Deine Krawatte sitzt völlig schief. Du bist eine Schande für die Schule, genau das bist du.«
Der Junge hieß Lindfield. Er war zwei Klassen über Richard, aber schon so groß wie ein Erwachsener. »Schau dir die Krawatte an. Ich meine, schau sie dir doch mal an.« Lindfield zerrte an Richards grüner Krawatte und zog sie zu einem kleinen, engen Knoten fest. »Jämmerlich.«
Lindfield und seine Freunde schlenderten davon.
Elric von Melniboné stand an der roten Backsteinmauer des Schulgebäudes und starrte ihn an. Richard zog an dem Krawattenknoten und versuchte, ihn zu lockern. Er schnürte ihm die Kehle zu.
Seine Hände tasteten über seinen Hals.
Er konnte nicht atmen, aber atmen war nicht sein größtes Problem. Es war das Stehen, das ihm Sorgen bereitete. Richard hatte plötzlich vergessen, wie man stand. Es war eine Erleichterung festzustellen, wie weich der gepflasterte Weg war, auf dem er gestanden hatte und der jetzt langsam emporschwebte, um ihn zu umfangen.
Sie standen zusammen unter einem Nachthimmel, der von tausenden riesiger Sterne übersät war. Vor ihnen erhob sich eine Ruine, die vielleicht vor langer Zeit einmal ein Tempel gewesen war.
Elrics Rubinaugen starrten auf ihn hinab. Sie sahen aus wie die Augen eines besonders gemeinen weißen Kaninchens, das Richard einmal besessen hatte, ehe es den Maschendraht seines Käfigs durchgebissen hatte und ins ländliche Sussex geflüchtet war, um unschuldige Füchse in Angst und Schrecken zu versetzen. Seine Haut war vollkommen weiß, seine verzierte, elegante Rüstung mit dem verschnörkelten Muster vollkommen schwarz. Das feine weiße Haar umwehte seine Schultern, dabei war es völlig windstill.
Du möchtest also ein Gefährte der Helden sein? fragte er. Seine Stimme klang sanfter, als Richard sie sich vorgestellt hatte.
Der Junge nickte.
Elric legte einen Finger unter Richards Kinn und zwang seinen Kopf hoch. Blutaugen , dachte Richard. Blutaugen.
Du bist kein Gefährte, Junge , sagte er in der Hochsprache von Melniboné.
Richard hatte immer gewusst, dass er die Hochsprache verstehen würde, wenn er sie je hören sollte, obwohl er in Latein und Französisch eher schwach war.
Aber was bin ich dann? fragte er. Bitte, sag es mir. Bitte.
Elric gab keine Antwort. Er ließ Richard stehen und ging davon, betrat den verfallenen Tempel.
Richard lief ihm nach.
Im Innern des Tempels fand Richard ein Leben, das auf ihn wartete, bereit, gelebt und getragen zu werden, und im Innern dieses Lebens verbarg sich wieder eines. Jedes Leben, das er anprobierte, verschlang ihn, zog ihn tiefer hinein, weiter fort von der Welt, aus der er gekommen war. Eines nach dem anderen, Existenz folgte Existenz, Traumflüsse und Sternenfelder, ein Falke, der einen Sperling in den Klauen hält, fliegt tief über dem Gras und dort warten kleine, komplizierte Geschöpfte darauf, dass er ihre Köpfe mit Leben füllt und tausende von Jahren vergehen und er hat eine seltsame Aufgabe von großer Wichtigkeit und klarer Schönheit zu erfüllen und er wird geliebt, er wird geehrt und dann ein Ziehen, ein energisches Zerren und es ist …
… es war, als tauche man vom Boden am tiefen Ende des Schwimmbeckens auf. Sterne erschienen über ihm und verblassten und lösten sich in Blau- und Grüntöne auf und mit einer Empfindung bitterer Enttäuschung wurde er wieder Richard Grey und kam zu sich, erfüllt von einem unbekannten Gefühl. Es war ein ganz bestimmtes Gefühl, so bestimmt, dass es ihn später überraschte, als er feststellte, dass es keinen eigenen Namen hatte: eine Mischung aus Verärgerung und Bedauern darüber, zu etwas zurückkehren zu müssen, das man für längst abgeschlossen und erledigt und vergessen und tot gehalten hat.
Richard lag auf der Erde und Lindfield zerrte an dem kleinen Krawattenknoten. Andere Jungen umstanden sie und die Gesichter, die auf ihn hinabstarrten, waren besorgt, bekümmert und angstvoll.
Lindfield löste den Knoten. Richard rang um Atem, sog begierig Luft in seine Lungen.
»Wir dachten, du markierst nur. Du bist einfach so umgefallen«, sagte irgendwer.
»Halt die Klappe«, fuhr Lindfield auf. »Alles in Ordnung? Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid. Lieber Himmel. Es tut mir so Leid.«
Einen Moment glaubte Richard, er entschuldige sich dafür, dass er ihn aus der Welt jenseits des Tempels zurückgerufen hatte.
Lindfield war furchtbar erschrocken, besorgt und völlig verängstigt. Während er Richard zum Büro der
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