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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Professor in die Quere kam, der auf der anderen Seite des Betts auf und ab ging. Der Humorist stand wie erstarrt neben der Tür, öffnete und schloß mechanisch die Hände und wirkte völlig verstört, am Rand der Panik. Da wurde mir zum erstenmal bewußt, daß keiner der engen Vertrauten des Propheten, trotz des deutlich bekundeten libertären Hedonismus der Sekte, ein Sexualleben hatte: Was den Humoristen und den Professor anging, war die Sache eindeutig — der eine aufgrund von Impotenz, der andere wegen fehlender Motivation. Flic dagegen war mit einer Frau verheiratet, die ebenso wie er hoch in den Fünfzigern war, daher konnte man wohl davon ausgehen, daß es nicht jeden Tag ein Fest der Sinne war, was da ablief; und er nutzte in keiner Weise die hohe Stellung aus, die er innerhalb der Organisation einnahm, um junge Anhängerinnen zu verführen. Die Anhänger selbst waren, wie ich mit zunehmendem Erstaunen bemerkt hatte, bestenfalls monogam und in den meisten Fällen nullogam — mit Ausnahme der jungen hübschen Anhängerinnen, denen der Prophet für eine Nacht Gastfreundschaft in seinem Bett gewährte. Kurz gesagt, der Prophet hatte sich innerhalb seiner eigenen Sekte wie ein dominantes Männchen aufgeführt und es geschafft, jede Form von männlichem Verhalten bei seinen Gefährten zu zerstören: Diese hatten nicht nur kein Sexualleben mehr, sie versuchten nicht einmal mehr, eins zu haben, taten nichts mehr, sich dem weiblichen Geschlecht zu nähern, und hatten den Gedanken internalisiert, daß die Sexualität ein Vorrecht des Propheten war; da begriff ich, warum dieser in seinen Vorträgen immer wieder ein Loblied auf die weiblichen Werte anstimmte und die Machohaltung unerbittlich verketzerte: Er verfolgte damit ganz einfach das Ziel, seine männlichen Zuhörer symbolisch zu kastrieren. Tatsächlich verringert sich die Testosteronproduktion bei den nicht-dominanten Männchen der meisten Affenarten und hört schließlich ganz auf.
    Der Himmel klärte sich allmählich auf, die Wolken verzogen sich; eine trostlose Helle würde bald die Ebene aufleuchten lassen, ehe die Nacht hereinbrach. Wir waren ganz nah am Wendekreis des Krebses — wir waren grob gekackt nicht weit davon entfernt, wie der Humorist gesagt hätte, als er noch imstande war, Witze zu reißen. »Das ist völlig un-wichs-dich, ich habe die Arschgewohnheit, Müsli zum Frühstück zu essen …«, das war die Art von Scherzen, mit denen er uns gewöhnlich aufzuheitern versuchte. Was sollte nur aus dem armen Kerl werden, jetzt, wo der Affe Nummer 1 nicht mehr da war? Er warf Flic und dem Professor, also Nummer 2 und Nummer 3, die weiter in dem Raum auf und ab gingen und sich mit Blicken zu messen begannen, einen verzweifelten Blick zu. Wenn das dominante Männchen nicht mehr imstande ist, seine Macht auszuüben, setzt die Testosteronsekretion bei den meisten Affen wieder ein. Flic konnte sich auf die ihm treu ergebene Miliz der Organisation verlassen — er hatte alle Wachsoldaten rekrutiert und ausgebildet, sie gehorchten nur ihm, und als der Prophet noch lebte, hatte er sich auf diesem Gebiet völlig auf ihn verlassen. Die Laboranten und sämtliche Techniker dagegen, die für das Genetikprojekt verantwortlich waren, hatten ausschließlich mit dem Professor zu tun. Wir standen im Grunde also vor dem typischen Konflikt zwischen roher Macht und Intelligenz, zwischen einer primitiven Testosteronreaktion und einer stärker geistig beeinflußten Reaktion. Ich spürte, daß die Sache in jedem Fall längere Zeit dauern würde, und setzte mich neben Vincent auf ein Sitzkissen. Dieser schien sich meiner Anwesenheit wieder bewußt zu werden, lächelte vage und versank erneut in seinen Träumen.
    Es folgten etwa fünfzehn Minuten Stille; der Professor und Flic durchmaßen weiter mit großen Schritten den Raum, der Teppichboden dämpfte das Geräusch ihrer Schritte. Ich war angesichts der Umstände ziemlich ruhig; mir war klar, daß weder ich noch Vincent für den Augenblick eine Rolle zu spielen hatten. Wir gehörten der Gruppe der sekundären Affen an, den Affen mit einer Ehrenrolle; es wurde allmählich dunkel, der Wind drang in den Raum — der Italiener hatte die Glaswand buchstäblich zum Explodieren gebracht.
    Plötzlich holte der Humorist aus der Tasche seines Anoraks einen digitalen Fotoapparat — einen Sony DSCF-101 mit drei Millionen Pixel, ich kannte den Apparat, ich hatte den gleichen gehabt, bevor ich auf eine Minolta Dimage A2 umgestiegen war,

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