Die Mglichkeit einer Insel
ein oder zwei Organe auszureißen. Zum Glück hatte ich gut vorgesorgt und mindestens zehn Schachteln Rohypnol mitgenommen, und so schlief ich etwas über fünfzehn Stunden.
Als ich aufwachte, stand die Sonne tief am Himmel, und ich hatte gleich das Gefühl, daß irgend etwas Seltsames im Gang war. Es sah nach Gewitter aus, doch ich wußte, daß es nicht losbrechen würde, es entlud sich hier nie, es regnete auf der Insel so gut wie gar nicht. Das Dorf der Anhänger war in schwaches, gelbes Licht gehüllt; die Öffnungen einiger Zelte wurden vom Wind leicht hin und her bewegt, aber ansonsten wirkte das Lager menschenleer, niemand ging zwischen den Zeltreihen hindurch. Ohne jedes menschliche Treiben herrschte völlige Stille. Als ich den Hügel hinaufging, kam ich an den Zimmern vorbei, in denen Vincent, der Professor und Flic wohnten, ohne jemanden zu sehen. Die Residenz des Propheten war offen, es war das erste Mal seit meiner Ankunft, daß keine Wächter vor dem Eingang standen. Beim Betreten des Vorraums dämpfte ich unwillkürlich das Geräusch meiner Schritte. Als ich durch den Flur ging, der zu seinen Gemächern führte, hörte ich leise Stimmen, das Geräusch eines Möbelstücks, das über den Boden geschleift wurde, und etwas, das nach Schluchzen klang.
In dem großen Raum, in dem der Prophet mich am Tag meiner Ankunft empfangen hatte, brannten alle Lichter, aber auch dort war niemand. Ich ging hinein, öffnete die Tür, die zur Anrichte führte, und machte kehrt. Auf der rechten Seite, in der Nähe des Swimmingpools, war eine Tür, hinter der sich ein Gang befand; das Geräusch der Stimmen schien mir aus dieser Richtung zu kommen. Ich ging vorsichtig weiter und stieß in einem zweiten Gang auf Gerard, der in der Türöffnung zum Schlafzimmer des Propheten stand. Der Humorist war in einem erbärmlichen Zustand: Sein Gesicht war noch blasser als sonst, er hatte tiefe Ringe um die Augen, machte den Eindruck, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. »Es ist… es ist…« Seine Stimme war schwach und zittrig, fast unhörbar. »Es ist etwas Schreckliches geschehen …«, brachte er schließlich hervor. Flic kam hinzu, stellte sich mit wütendem Gesicht vor mich hin und sah mich mit abschätzendem Blick an. Der Humorist gab einen klagenden Laut von sich, der sich wie ein Blöken anhörte. »Na gut, so wie die Dinge stehen, können wir ihn auch reinlassen …«, knurrte Flic.
Mitten im Schlafzimmer des Propheten stand ein riesiges rundes Bett von drei Meter Durchmesser, das mit rosa Satin bezogen war; im Raum verstreut lagen Sitzkissen aus rosa Satin, und drei Wände waren mit Spiegeln bedeckt; die vierte war eine Fensterwand, die den Blick auf die steinige Ebene und dahinter auf die im Gewitterlicht leicht bedrohlich wirkenden ersten Vulkane freigab. Das Fenster war zertrümmert, mitten auf dem Bett lag die Leiche des Propheten, nackt und mit durchschnittener Kehle. Er hatte sehr viel Blut verloren, die Halsschlagader war sauber durchtrennt. Der Professor ging nervös im Zimmer auf und ab. Vincent saß auf einem Sitzkissen und wirkte ziemlich gedankenverloren, er hob kaum den Kopf, als er hörte, wie ich mich näherte. Ein Mädchen mit langem schwarzem Haar, in dem ich Francesca wiedererkannte, saß niedergeschmettert in einer Ecke des Raums, sie trug ein weißes, blutbeflecktes Nachthemd.
»Es war der Italiener…«, sagte Flic schroff.
Es war das erstemal, daß ich Gelegenheit hatte, eine Leiche zu sehen, und ich war nicht sonderlich beeindruckt; ich war auch nicht sonderlich überrascht. Bei dem Abendessen zwei Tage zuvor, bei dem der Prophet die Italienerin auserkor, hatte ich den Gesichtsausdruck ihres Gefährten gesehen und dabei den flüchtigen Eindruck gehabt, daß der Prophet diesmal zu weit ging und die Sache nicht so einfach verlaufen würde wie gewöhnlich; doch dann schien sich Gianpaolo damit abzufinden, und ich sagte mir, daß auch er den Schwanz einzog wie alle anderen, doch offensichtlich hatte ich mich getäuscht. Ich näherte mich neugierig der Fensterwand: Der Abhang war sehr steil, fast senkrecht; es gab zwar ein paar Stellen, an denen man Halt finden konnte, und es war festes Gestein, das weder splitterte noch abbröckelte, dennoch war es eine eindrucksvolle Kletterpartie. »Ja …«, bemerkte Flic düster, während er sich mir näherte, »er muß wohl eine Mordswut gehabt haben …« Dann durchmaß er weiter mit großen Schritten den Raum, achtete aber darauf, daß er nicht dem
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