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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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verschwunden, wie der Prophet lehrte, wir lebten jetzt unter dem neuen Gesetz der wirklichen Liebe). Die meisten taten nichts oder meditierten vielleicht auf ihre Weise — viele hatten die Hände mit nach oben gewandten Handflächen auf den Knien liegen und den Blick auf die Sterne gerichtet. Die Zelte, die von der Sekte gestellt wurden, hatten die Form eines Tipis, aber der weiße, leicht glänzende Stoff war hochmodern im Stil der neuen Materialien, die ein »Nebenprodukt der Raumforschung« sind. Kurz gesagt, sie bildeten so etwas wie einen Stamm, einen Hightech-Indianerstamm, ich glaube, sie hatten alle einen Internetanschluß, der Prophet legte großen Wert darauf, das sei unerläßlich, damit er ihnen augenblicklich seine Anweisungen übermitteln könne. Sie hielten vermutlich regen Kontakt per Internet untereinander, aber das Erstaunliche, wenn man sie hier versammelt sah, war eher ihre Einsamkeit und die Stille; jeder blieb stumm vor seinem Zelt sitzen, ohne seine Nachbarn zu besuchen, sie waren nur ein paar Meter voneinander entfernt, schienen sich aber gegenseitig völlig zu ignorieren. Ich wußte, daß die meisten von ihnen weder Kinder noch Haustiere hatten (das war zwar nicht verboten, aber man riet ihnen ernsthaft davon ab; es ging in erster Linie darum, eine neue Gattung zu schaffen, und die Fortpflanzung der existierenden Gattungen wurde als etwas Überholtes, als konservatives Verhalten angesehen, das von einer ängstlichen Einstellung und mangelndem Glauben zeugte; es schien ziemlich unwahrscheinlich, daß ein Familienvater eine hohe Position in der Sekte einnehmen konnte). Ich lief sämtliche Gänge entlang, kam an Hunderten von Zelten vorbei, ohne daß irgend jemand das Wort an mich richtete; sie begnügten sich mit einem Kopfnicken, einem diskreten Lächeln. Zunächst sagte ich mir, daß sie vielleicht ein wenig eingeschüchtert waren: Schließlich war ich ein VIP und hatte das Vorrecht, wann immer ich wollte direkt mit dem Propheten reden zu können; aber mir wurde schnell klar, daß sie sich genauso verhielten, wenn sie sich zwischen den Zelten begegneten: ein Lächeln, ein Kopfnicken, das war alles. Nachdem ich das Zeltdorf hinter mir gelassen hatte, ging ich noch ein paar hundert Meter auf dem steinigen Weg weiter, ehe ich haltmachte. Es war eine Vollmondnacht, man konnte die Kieselsteine und die Lavablöcke gut erkennen; in östlicher Richtung sah ich in der Ferne die leicht glitzernde Metallumzäunung, die das Gelände umgab; ich befand mich mitten im Nichts, die Luft war lau, und ich wäre gern zu irgendeiner Schlußfolgerung gekommen.
    Ich muß wohl lange Zeit so verbracht haben, in einem Zustand völliger geistiger Leere, denn bei meiner Rückkehr war alles im Lager still; anscheinend schliefen alle. Ich warf einen Blick auf meine Uhr: Es war kurz nach drei. In der Zelle des Professors brannte noch Licht; er saß an seinem Arbeitstisch, hörte mich aber vorbeigehen und gab mir ein Zeichen, hereinzukommen. Der Raum war nicht so karg eingerichtet, wie ich mir es vorgestellt hatte: ein Sofa mit hübschen Seidenkissen, und auf dem Felsboden lagen mehrere Teppiche mit abstrakten Motiven; der Professor bot mir ein Glas Tee an.
    »Du hast sicher gemerkt, daß innerhalb des Leitungsteams gewisse Spannungen bestehen …«, sagte er, bevor er eine Pause einlegte. Ich war in ihren Augen offenbar wirklich ein Mann von Gewicht; ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß sie meine Bedeutung überschätzten. Es stimmte zwar, daß ich erzählen konnte, was ich wollte, und in den Medien immer ein Echo finden würde; aber das hieß noch lange nicht, daß die Leute mir Glauben schenkten und ihren Standpunkt änderten: Jeder war es gewohnt, daß sich namhafte Persönlichkeiten in den Medien über alle möglichen Themen ausließen, um im allgemeinen vorhersehbare Dinge zu sagen, niemand gab mehr wirklich darauf acht, kurz gesagt, das Starsystem, das gezwungen war, einen widerwärtigen Konsens zu produzieren, war seit langem unter der Last seiner eigenen Bedeutungslosigkeit zusammengebrochen. Doch ich unternahm nichts, um ihm die Augen zu öffnen; ich stimmte ihm mit der Haltung wohlwollender Neutralität zu, die mir so oft im Leben geholfen und erlaubt hatte, vertrauliche Gespräche mit Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus zu führen und die Informationen, die ich so erhielt, anschließend in bis zur Unkenntlichkeit abgewandelter Form für meine Sketche zu verwenden.
    »Ich mache mir nicht

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