Die Mglichkeit einer Insel
trotzdem meinen Erklärungen ohne Schwierigkeit folgen und zog sogleich die Schlußfolgerung daraus.
»Die Unsterblichkeit also …«, sagte sie. »Das wäre dann so etwas wie eine zweite Chance.«
»Oder eine dritte Chance; oder unendlich viele Chancen. Die richtige Unsterblichkeit.«
»Na gut; ich bin damit einverstanden, ihnen meine DNA zu überlassen und ihnen mein ganzes Hab und Gut zu vermachen. Ich werde es auch für Fox tun. Für meine Mutter …« Sie zögerte und ihr Gesicht verfinsterte sich. »Ich glaube, für sie ist es zu spät; das würde sie nicht verstehen. Sie leidet jetzt; ich glaube, sie hat nur noch den Wunsch zu sterben. Sie will das Nichts.«
Es überraschte mich, wie schnell sie reagierte, und von diesem Augenblick an hatte ich wohl die Eingebung, daß etwas Neues im Entstehen begriffen war. Daß eine neue Religion in den westlichen Ländern aufkommen konnte, war schon als solches überraschend, wenn man bedenkt, daß die europäische Geschichte der letzten dreißig Jahre vom massiven, verblüffend raschen Zusammenbruch der herkömmlichen Glaubenslehren gekennzeichnet war. In Ländern wie Spanien, Polen oder Irland waren das Gesellschaftsleben und sämtliche Verhaltensweisen seit Jahrhunderten vom katholischen Glauben geprägt worden, er war dort tief verwurzelt und allgemein verbreitet gewesen, hatte sich maßgeblich auf die Moral und die Familienbeziehungen ausgewirkt, hatte das ganze kulturelle und künstlerische Leben, die gesellschaftlichen Hierarchien, die Traditionen, die Lebensregeln bestimmt. Im Verlauf weniger Jahre, in unglaublich kurzer Zeit — weniger als einer Generation — war all das verschwunden, hatte sich in Nichts aufgelöst. In diesen Ländern glaubte heute niemand mehr an Gott, nahm niemand mehr Rücksicht auf die Religion, und kaum jemand erinnerte sich daran, je an Gott geglaubt zu haben; und all das hatte sich ohne Schwierigkeiten, ohne Konflikte, ohne Gewalt oder irgendeinen Protest vollzogen, sogar ohne wirkliche Diskussion, ebenso selbstverständlich wie ein schwerer Gegenstand, der, eine Zeitlang von äußeren Banden aus dem Gleichgewicht gebracht, dieses wiederfindet, sobald man die Bande löst. Der menschliche Glaube war vielleicht gar nicht so ein massiver, fester, unverrückbarer Block, wie man ihn sich gewöhnlich vorstellt; vielleicht war er ganz im Gegenteil gerade das, was im Menschen besonders flüchtig, besonders empfindlich und ganz schnell bereit ist, zu entstehen und wieder zu verschwinden.
Daniel25,10
Die meisten Zeugnisse bestätigen es uns: Tatsächlich hatte die elohimitische Kirche von dieser Epoche an immer größeren Zulauf und verbreitete sich, ohne auf Widerstand zu treffen, in der gesamten westlichen Welt. Nachdem sie sich in knapp zwei Jahren die westlichen buddhistischen Strömungen in Rekordzeit einverleibt hatte, absorbierte die elohimitische Bewegung ebenso leicht die letzten Reste des dem Untergang geweihten Christentums, ehe sie sich nach Asien wandte, das sie von Japan ausgehend in nicht minder überraschendem Tempo eroberte, vor allem wenn man bedenkt, daß sich dieser Kontinent jahrhundertelang allen christlichen Missionierungsversuchen siegreich widersetzt hatte. Allerdings hatten sich die Zeiten geändert, und der Elohimismus trat gewissermaßen in die Fußstapfen des Konsumkapitalismus — der dadurch, daß er die Jugend als begehrenswertestes höchstes Ziel erkor, nach und nach den Respekt vor der Tradition und den Ahnenkult zerstört hatte —, da er den Menschen versprach, ihre Jugend und die damit verbundenen Vergnügen für alle Zeiten bewahren zu können.
Erstaunlicherweise stellte der Islam viel länger ein Bollwerk des Widerstands dar. Die muslimische Religion, die sich auf eine ständige massive Einwanderung stützte, verstärkte sich in den westlichen Ländern praktisch im gleichen Rhythmus wie der Elohimismus; auch wenn sie sich vornehmlich an die aus dem Maghreb und Schwarzafrika stammende Bevölkerung wandte, hatte sie dennoch zunehmenden Erfolg bei den »alteingesessenen« Europäern, und zwar ausschließlich aufgrund der ihr innewohnenden Machohaltung. Denn der Verzicht auf die Machohaltung hatte zwar die Männer unglücklich gemacht, die Frauen jedoch nicht glücklicher. Immer mehr Männer und vor allem Frauen träumten von der Rückkehr zu einem System, in dem die Frauen züchtig und gehorsam waren und sie ihre Jungfräulichkeit bewahrten. Selbstverständlich nahm der erotische Druck, dem die
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