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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Nachricht lief schnell über den Bildschirm und überlagerte die Bilder:
    Und das Meer, das mich erdrückt, und der Sand,
    Die Folge der Augenblicke, die vorüberziehen
    Wie Vögel, die sanft über New York schweben,
    Wie große Vögel mit unerbittlichem Flug.
    Nur zu! Es ist höchste Zeit, die Schale zu sprengen,
    Um das funkelnd vor uns liegende Meer zu sehen,
    Auf neuen Wegen, die unsere Schritte wiedererkennen
    Und die wir schwach und ungewiß gemeinsam begehen.
    Es ist absolut kein Geheimnis, daß es unter den Neo-Menschen hin und wieder vorkommt, daß jemand abtrünnig wird; auch wenn das Thema nie offen angeschnitten wird, ist es in gewissen Anspielungen, gewissen Gerüchten zum Ausdruck gekommen. Gegen Deserteure werden keinerlei Maßnahmen ergriffen, und es wird nichts unternommen, um ihre Spur wiederzufinden. Die Station, wo sie gelebt haben, wird von einem Team, das von Central City entsandt wird, ganz einfach für immer geschlossen, die Ahnenfolge, der sie entstammen, wird als erloschen erklärt.
    Marie23 hatte möglicherweise beschlossen, ihren Posten zu verlassen, um sich einer Gemeinschaft von Wilden anzuschließen, doch selbst wenn das der Fall sein sollte, wußte ich, daß ich nichts tun konnte, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ein paar Minuten lang ging sie im Raum auf und ab; sie wirkte sehr nervös und aufgeregt, hätte zweimal fast das Bildfeld verlassen. »Ich weiß nicht genau, was mich erwartet«, sagte sie schließlich und wandte sich dabei der Kamera zu, »aber ich weiß, daß ich mehr Leben brauche. Es hat lange gedauert, ehe ich mich dazu entschlossen habe, ich habe versucht, alle verfügbaren Informationen auszuwerten. Ich habe oft mit Esther31 darüber gesprochen, die auch in den Trümmern von New York lebt; wir haben uns sogar vor drei Wochen persönlich getroffen. Es ist nicht unmöglich; man muß anfangs eine große geistige Anspannung überwinden, denn es ist nicht leicht, die Grenzen der Station hinter sich zu lassen, man ist dabei von großer Unruhe und Verwirrung erfüllt; aber es ist nicht unmöglich …«
    Ich verarbeitete die Information, deutete mit einem leichten Kopfnicken an, daß ich sie verstanden hatte. »Sie stammt tatsächlich von derselben Esther ab, die dein Vorfahre gekannt hat«, fuhr sie fort. »Ich habe einen Moment lang geglaubt, sie sei bereit, mich zu begleiten; doch schließlich hat sie den Gedanken aufgegeben, zumindest für den Augenblick, aber ich habe den Eindruck, daß auch sie nicht mit unserer Lebensweise zufrieden ist. Wir haben mehrmals über dich gesprochen; ich glaube, sie wäre sehr glücklich darüber, in eine Phase der Intermediation zu treten.«
    Ich nickte erneut. Sie blickte noch ein paar Sekunden wortlos in die Kamera, dann schulterte sie mit einem seltsamen Lächeln einen kleinen Rucksack, wandte sich um und ging links aus dem Bild. Ich blieb noch lange regungslos vor dem Bildschirm sitzen, auf dem das leere Zimmer zu sehen war.
     
     

Daniel1,24
    Nach mehreren Wochen tiefer Niedergeschlagenheit wandte ich mich wieder meinem Lebensbericht zu, aber das brachte mir kaum Erleichterung. Ich war etwa am Zeitpunkt meiner Begegnung mit Isabelle angelangt, und diese papierne Verdoppelung meines realen Daseins kam mir ein wenig ungesund vor, ich hatte auf jeden Fall absolut nicht den Eindruck, damit etwas Wichtiges oder Bedeutsames zu vollbringen. Vincent dagegen schien großen Wert darauf zu legen, er rief mich jede Woche an, um zu hören, wie weit ich war, und einmal sagte er sogar zu mir, daß das, was ich tue, in gewisser Hinsicht genauso wichtig sei wie die Forschungsarbeit des Professors auf Lanzarote. Das war ganz offensichtlich übertrieben, bewirkte aber auf jeden Fall, daß ich mich mit neuem Eifer an die Arbeit machte; es war wirklich seltsam, wie es dazu gekommen war, daß ich ihm solches Vertrauen schenkte und seine Worte wie eine Weissagung aufnahm.
    Nach und nach wurden die Tage länger, das Wetter milder und trockener, und ich ging wieder öfter nach draußen. Ich mied das Baugelände vor meinem Haus, schlug statt dessen den Weg ein, der in die Hügel führte, und lief dann wieder zur Steilküste hinab; von dort aus betrachtete ich das weite, graue Meer, das ebenso ruhig und grau war wie mein Leben. Ich blieb in jeder Kurve stehen und paßte mich dem Rhythmus von Fox an; er war glücklich über diese langen Spaziergänge, das sah ich, auch wenn ihm das Laufen inzwischen etwas Mühe machte. Wir legten uns sehr früh schlafen,

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