Die Mglichkeit einer Insel
friedlich und leer; doch sobald sie wieder mit der Wirklichkeit Kontakt aufnehmen, zu Bewußtsein kommen und zu denken beginnen, fangen sie sofort wieder an zu weinen — sanft und ohne Unterbrechung, tagelang. Vincent hörte mir aufmerksam zu, trotz der späten Stunde, ohne zu protestieren; dann versprach er mir, er würde gleich den Professor anrufen. Der genetische Code von Fox sei konserviert worden, erinnerte er mich, und wir seien unsterblich geworden; wir, aber wenn wir es wünschten, auch unsere Haustiere.
Er schien daran zu glauben, er schien fest daran zu glauben, und plötzlich war ich wie erstarrt vor Freude. Und auch vor Skepsis: Ich war im Glauben an den Tod und an die Gewißheit seiner Macht aufgewachsen und alt geworden. In seltsamer geistiger Verfassung, als sei ich kurz davor, in einer magischen Welt zu erwachen, wartete ich auf das Morgengrauen. Der Tag brach blaß über dem Meer an; die Wolken waren verschwunden, ein winziger Fleck blauen Himmels tauchte am Horizont auf.
Miskiewicz rief kurz vor sieben an. Jawohl, die DNA von Fox sei konserviert worden, und sie sei unter guten Bedingungen gelagert, es gebe keinen Grund zur Besorgnis; leider sei das Klonen von Hunden noch genauso unmöglich wie das von Menschen. Er sei ganz nah am Ziel, es sei nur noch eine Frage von Jahren oder möglicherweise von Monaten; die Sache sei schon bei Ratten und sogar — wenn auch nicht wiederholbar — bei einer Hauskatze mit Erfolg durchgeführt worden. Das Klonen von Hunden schien seltsamerweise auf Probleme zu stoßen, die komplizierter waren, aber er versprach mir, mich auf dem laufenden zu halten, und versicherte mir, daß Fox der erste sein würde, der in den Genuß dieser Technik kommen würde.
Seine Stimme, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte, rief immer noch den gleichen Eindruck von sachlicher Kompetenz in mir hervor, und als ich den Hörer auflegte, überkam mich ein seltsames Gefühl: Es war ein Mißerfolg, zur Zeit war es noch ein Mißerfolg, und ich war ohne Zweifel dazu verdammt, mein Leben in völliger Einsamkeit zu beenden; doch zum erstenmal begriff ich Vincent und die anderen Bekehrten, begriff ich die Tragweite des Versprechens. Und als die Sonne über dem Meer aufstieg, empfand ich ein noch dunkles, fernes, verschleiertes Gefühl, das an Hoffnung grenzte.
Daniel25,13
Der Fortgang von Marie23 verstört mich tiefer, als ich gedacht hätte; ich habe mich so an unsere Gespräche gewöhnt; ich bin traurig, daß sie nicht mehr stattfinden, sie fehlen mir, und ich kann mich noch nicht entschließen, mit Esther31 Kontakt aufzunehmen.
Am Tag nach ihrem Fortgang druckte ich die topographischen Aufnahmen der Bereiche aus, die Marie23 zu durchqueren hatte, wenn sie nach Lanzarote wollte; ich bin in Gedanken noch oft bei ihr und male mir die Etappen ihres Weges aus. Wir leben so, als wären wir von einem Schleier umgeben, von einem Bollwerk aus Gegebenheiten, aber es steht uns frei, diesen Schleier zu zerreißen, dieses Bollwerk zu zerstören; unsere noch menschlichen Körper sind bereit, sich wieder ins Leben zu stürzen. Marie23 hat beschlossen, sich von unserer Gemeinschaft zu trennen, und dabei handelt es sich um einen freiwilligen, endgültigen Aufbruch; ich habe große Schwierigkeiten, diesen Gedanken zu akzeptieren. Für solche Gelegenheiten empfiehlt die Höchste Schwester die Lektüre von Spinoza; ich verbringe täglich eine Stunde damit.
Daniel1,25
Erst nach dem Tod von Fox wurden mir die Parameter der Aporie richtig bewußt. Das Wetter änderte sich schnell, bald würde es in Südspanien wieder sehr heiß werden; entblößte Mädchen ließen sich vor allem am Wochenende in der Nähe meiner Residenz am Strand bräunen, und ich spürte, wie schwach und schlaff etwas wieder in mir aufkam, was nicht einmal richtige Begierde war — denn dieses Wort scheint mir zumindest vorauszusetzen, daß man an die Möglichkeit seiner Verwirklichung glaubt —, sondern die Erinnerung an das, was eine Begierde sein könnte, sozusagen deren Gespenst. Ich sah, wie sich die cosa mentale vor mir abzeichnete, die letzte Qual, und in diesem Augenblick konnte ich endlich sagen, daß ich die Sache begriffen hatte. Die sexuelle Lust ist nicht nur raffinierter und heftiger als alle anderen Sinnenfreuden, die man im Leben verspüren kann; sie ist nicht nur die einzige Sinnenfreude, die keinerlei negative Auswirkungen auf den Organismus hat, sondern sie trägt im Gegenteil dazu bei, seine
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