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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Vitalität und Kraft auf höchstem Niveau zu halten. Sie ist die einzige wirkliche Sinnenfreude, ja das einzige Ziel des menschlichen Daseins, und alle anderen — ganz gleich, ob sie durch feines Essen, Tabak, Alkohol oder Drogen gefördert werden — sind nur lächerliche, verzweifelte Ersatzbefriedigungen, auf Raten verübte Selbstmorde, die sich nicht als solche auszugeben wagen, Versuche, einen Körper so schnell wie möglich zu zerstören, der keinen Zugang mehr zu der einzig wirklichen Lust hat. Das menschliche Leben ist also auf furchtbar einfache Weise angelegt, und mir war es in meinen Drehbüchern und Sketchen in den knapp zwanzig Jahren lediglich gelungen, mich einer Wirklichkeit anzunähern, die sich doch in wenigen Sätzen ausdrücken läßt. Die Jugend ist die Zeit des Glücks, die einzige im ganzen Dasein; junge Leute führen ein sorgloses müßiges Leben, in dem sie nur zum Teil mit ihrer Ausbildung beschäftigt sind, die sie wenig in Anspruch nimmt, sie können sich daher ganz der freien Entfaltung ihres Körpers widmen. Sie können spielen, tanzen, lieben und das Leben genießen. Sie können in den frühen Morgenstunden in Begleitung von Sexualpartnern, die sie sich ausgesucht haben, von einem Fest heimkehren und die Schlangen trübseliger Angestellter beobachten, die zur Arbeit fahren. Sie sind das Salz der Erde, alles fällt ihnen zu, alles ist ihnen erlaubt, alles steht ihnen offen. Später, nachdem sie eine Familie gegründet haben und in die Welt der Erwachsenen eingetreten sind, lernen sie die Sorgen des Alltags, Plackerei, Verantwortung und die Schwierigkeiten des Daseins kennen; dann müssen sie Steuern zahlen, sich Verwaltungsmaßnahmen beugen und dabei ohnmächtig und voller Scham ihrem eigenen unabwendbaren körperlichen Verfall zusehen, der sich zunächst noch langsam, aber dann immer schneller vollzieht; und vor allem müssen sie in ihrem eigenen Haus Kinder versorgen, wie tödliche Feinde, müssen sie hegen, ernähren, sie pflegen, wenn sie krank sind, die Mittel für deren Ausbildung und Zeitvertreib aufbringen, und im Gegensatz zu dem, was im Tierreich geschieht, dauert das nicht nur eine kurze Zeit, sie bleiben für immer Sklaven ihrer Sprößlinge, die Zeit der Freude ist für sie für allemal vorbei, sie müssen sich bis zum Schluß weiter abmühen, unter Schmerzen und mit zunehmenden gesundheitlichen Problemen, bis sie zu nichts mehr gut sind und als störende, unnütze Greise endgültig zum alten Eisen geworfen werden. Ihre Kinder sind ihnen für all das aber in keiner Weise dankbar, ganz im Gegenteil, mögen sich die Eltern auch noch so angestrengt haben, diese Anstrengungen werden immer als unzureichend erachtet und die Eltern, ganz einfach weil sie Eltern sind, als schuldig betrachtet. Diesem schmerzlichen, von Scham gezeichneten Leben wird jede Gelegenheit zur Freude unbarmherzig verwehrt. Sobald sie sich dem Körper von jungen Menschen nähern wollen, werden sie verjagt, zurückgewiesen, lächerlich gemacht, erniedrigt und heutzutage immer öfter ins Gefängnis gesteckt. Der jugendliche Körper, das einzige begehrenswerte Gut, das die Welt je hervorgebracht hat, ist ausschließlich den jungen Menschen zum Gebrauch vorbehalten, und die Alten müssen sich damit abfinden, zu arbeiten und ihr Schicksal zu erdulden. Das ist der eigentliche Sinn des Generationenvertrags: Es handelt sich um eine regelrechte Vernichtung einer jeweiligen Generation zugunsten derer, die ihr folgt, eine grausame, lang andauernde Vernichtung, die von keiner Stärkung, keinem Trost, keiner materiellen oder affektiven Entschädigung begleitet ist.
    Ich hatte Verrat begangen. Ich hatte meine Frau verlassen, kurz nachdem sie schwanger wurde, hatte mich nie für meinen Sohn interessiert und seinen Tod gleichgültig hingenommen; ich hatte mich der endlosen Aufeinanderfolge verweigert, den unbegrenzten Kreis der Fortpflanzung des Leidens gesprengt, und das war vielleicht die einzige edle Tat, die einzige Geste echter Auflehnung, auf die ich am Ende meines Lebens, das trotz seines scheinbar künstlerischen Charakters sehr mittelmäßig war, stolz sein konnte; ich hatte sogar, wenn auch nur kurz, mit einem Mädchen geschlafen, das so alt war, wie mein Sohn zu jenem Zeitpunkt gewesen wäre. Ich hatte so wie die bewundernswerte Jeanne Calment, die eine Weile der älteste Mensch der Welt gewesen war, ehe sie schließlich im Alter von hundertzweiundzwanzig Jahren starb, und die auf die dümmliche Frage der

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