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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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ausdrücklich bestätigt, auch wenn sie diesem Ereignis einen anderen Stellenwert einräumen. Während Vincent1 nur hin und wieder in einem Absatz darauf anspielt und Jerôme1 die Sache fast völlig übergeht, widmet Slotan1 dem Gedanken der GSK und den Arbeiten, die einige Monate später deren praktische Anwendung ermöglichen sollten, mehrere Dutzend Seiten. Ganz allgemein gesagt, schreiben die Kommentatoren dem Lebensbericht von Daniel1 oft eine zentrale, ja kanonische Rolle zu. Während Vincent1 in exzessiver Weise den Akzent auf die ästhetische Komponente der Rituale legt, Slotan1 sich fast ausschließlich der Beschreibung seiner Forschungsarbeit widmet und Jerôme1 vor allem Probleme der Disziplin und der materiellen Organisation anschneidet, ist Daniel1 der einzige, der uns eine vollständige und zugleich etwas distanzierte Beschreibung von der Entstehung der elohimitischen Kirche liefert; während sich die anderen, da sie täglich mit der Sache zu tun haben, nur auf die Lösung praktischer Probleme konzentrieren, mit denen sie konfrontiert sind, scheint er oft der einzige zu sein, der ein wenig Abstand gewonnen und wirklich die Bedeutung dessen erkannt hat, was sich vor seinen Augen abspielt.
    Dieser Sachverhalt überträgt mir wie auch allen meinen Vorgängern aus der Serie der Daniels eine besondere Verantwortung: Mein Kommentar ist kein und kann kein gewöhnlicher Kommentar sein, da er die Begleitumstände der Erschaffung unserer Spezies und ihres Wertesystems aus nächster Nähe betrifft. Seine zentrale Rolle wird noch durch die Tatsache unterstrichen, daß mein entfernter Vorfahre nach Ansicht von Vincent1 und vermutlich auch in seiner eigenen Einschätzung ein typischer Vertreter des Menschengeschlechts war, ein Mensch unter vielen anderen.
    Der Höchsten Schwester zufolge gehen die Eifersucht, die sexuelle Begierde und der Wunsch, Kinder zu zeugen, auf den gleichen Ursprung zurück: den Schmerz des Daseins. Der Schmerz des Daseins ist der Grund, weshalb wir in unserer Not die Gesellschaft anderer suchen; wir müssen dieses Stadium überwinden, um den Zustand zu erreichen, in dem die simple Tatsache dazusein als solche schon einen ständigen Anlaß der Freude darstellt und in dem die Intermediation nur noch ein reines, frei entfaltetes Spiel ist, ohne daß sich das Dasein darauf gründet. Kurz gesagt, wir müssen die Freiheit erlangen, gleichgültig zu werden, das ist die Voraussetzung für die Möglichkeit vollkommener Gelassenheit.
     
     

Daniel1,23
    Am Morgen des Weihnachtstages erfuhr ich, daß Isabelle sich umgebracht hatte. Es wunderte mich nicht wirklich: Innerhalb weniger Minuten spürte ich, wie sich eine Leere in mir ausbreitete; aber es handelte sich um eine Leere, die voraussehbar war und die ich bereits erwartet hatte. Seit meiner Abreise aus Biarritz wußte ich, daß Isabelle irgendwann Selbstmord begehen würde; ich wußte es seit dem Blick, den wir am letzten Morgen gewechselt hatten, als ich die Küche verließ, um ins Taxi zu steigen, das mich zum Bahnhof bringen sollte. Ich hatte auch geahnt, daß sie den Tod ihrer Mutter abwarten würde, um sie bis zuletzt zu pflegen und ihr nicht weh zu tun. Und ich wußte darüber hinaus, daß ich selbst früher oder später zu der gleichen Lösung greifen würde.
    Ihre Mutter war am 13. Dezember gestorben. Isabelle hatte eine Grabstätte auf dem städtischen Friedhof von Biarritz gekauft und sich um die Beerdigung gekümmert; sie hatte ein Testament gemacht und ihre Angelegenheiten ins reine gebracht; und in der Nacht zum 25. hatte sie sich dann eine hohe Dosis Morphium gespritzt. Sie war nicht nur ohne Schmerzen gestorben, sondern vermutlich sogar in einem Anflug von Freude, oder zumindest in einem Zustand euphorischer Entspannung, den dieses Mittel hervorruft. Am Morgen desselben Tages hatte sie Fox in einem Hundezwinger abgegeben. Sie hinterließ mir keinen Brief, da sie wohl angenommen hatte, daß es überflüssig sei und ich sie nur allzugut verstehen würde; aber sie hatte angeordnet, daß mir der Hund übergeben werden sollte.
    Ich fuhr ein paar Tage später hin, sie war bereits eingeäschert worden. Am Morgen des 30. Dezember betrat ich den »Saal der Stille« auf dem Friedhof in Biarritz. Es war ein großer runder Raum mit einer Decke aus Glas, die den Raum in sanftes graues Licht tauchte. Alle Wände besaßen kleine Waben, in denen man Metallquader mit der Asche der Verstorbenen aufbewahren konnte. Über jeder Nische war ein kleines

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