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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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noch ehe die Sonne unterging; ich sah nie fern, denn ich hatte vergessen, das Abonnement für das Satellitenfernsehen zu verlängern; ich las auch nicht mehr viel, selbst Balzac langweilte mich allmählich. Ich fühlte mich vom gesellschaftlichen Leben wohl nicht mehr so betroffen wie zu der Zeit, als ich meine Sketche schrieb. Ich wußte schon damals, daß ich ein begrenztes Genre gewählt hatte, das mir nicht erlauben würde, in meiner ganzen Laufbahn auch nur ein Zehntel von dem zu vollbringen, was Balzac in einem einzigen Roman erreicht hatte. Im übrigen war mir völlig klar, was ich ihm verdankte: Ich hatte alle meine Sketche archiviert, alle Auftritte waren gefilmt worden, es waren etwa fünfzehn DVDs, doch obwohl mir jetzt die Tage unendlich lang vorkamen, wäre ich nie auf den Gedanken verfallen, sie mir anzusehen. Man hatte mich oft mit den französischen Moralisten, manchmal mit Lichtenberg verglichen, aber nie hatte jemand an Moliere oder Balzac gedacht. Trotzdem las ich Glanz und Elend der Kurtisanen noch einmal, vor allem wegen der Romangestalt Nucingen. Immerhin bemerkenswert, daß es Balzac gelungen war, der Figur des verliebten Barons eine so ergreifende Dimension zu verleihen, eine Dimension, die, wenn man darüber nachdenkt, zwar eigentlich selbstverständlich sein müßte und schon in der Definition begründet ist, dennoch hatte Moliere nie daran gedacht; allerdings beschränkte sich Moliere auf das Register der Komik, das ist immer dasselbe Problem, man stößt unweigerlich auf die gleiche Schwierigkeit, nämlich, daß das Leben im Grunde überhaupt nicht komisch ist.
    An einem regnerischen Aprilmorgen beschloß ich, nachdem ich fünf Minuten lang durch schlammige Pfützen gewatet war, den Spaziergang abzukürzen. Als ich die Einfahrt meiner Residenz erreichte, stellte ich fest, daß Fox nicht da war; es goß inzwischen in Strömen, man konnte keine fünf Meter weit sehen, ich hörte in der Nähe einen lärmenden Schaufelbagger, den ich nicht erkennen konnte. Ich ging ins Haus, um mir einen Regenumhang zu holen, dann machte ich mich im dichten Regen auf die Suche nach Fox; ich ging an all den Stellen vorbei, wo er gern stehenblieb, um an irgend etwas zu schnuppern.
    Ich fand ihn erst am späten Nachmittag nicht mehr als dreihundert Meter von meinem Haus entfernt; ich muß mehrmals an ihm vorbeigegangen sein, ohne ihn zu sehen. Nur sein blutbefleckter Kopf mit heraushängender Zunge und starren, vor Entsetzen verdrehten Augen ragte hervor. Ich wühlte mit den Händen im Schlamm und befreite seinen Körper, der wie eine Wurst geplatzt war: die Eingeweide waren herausgequollen; er befand sich eindeutig auf dem Seitenstreifen, der Lastwagen mußte ein ganzes Stück von der Fahrbahn abgewichen sein, um ihn zu überfahren. Ich zog meinen Umhang aus, um ihn einzuwickeln, und kehrte mit gebeugtem Rücken und tränenüberströmtem Gesicht heim, wobei ich die Augen abwandte, um nicht den Blicken der Arbeiter zu begegnen, die innehielten und mit hämischem Lächeln zusahen, wie ich vorüberging.
    Mein Weinkrampf dauerte vermutlich sehr lange, denn als ich mich beruhigte, war es schon fast dunkel; auf der Baustelle war niemand mehr, aber es regnete noch immer. Ich ging in den Garten oder, besser gesagt, in den früheren Garten, denn jetzt war es ein verwahrlostes Gelände, das im Sommer staubig und im Winter ein Schlammsee war. Es war nicht sonderlich anstrengend, an der Ecke des Hauses ein Grab für Fox zu schaufeln; ich legte sein Lieblingsspielzeug darauf, eine kleine Plastikente. Der Regen rief einen weiteren Schlammstrom hervor, der das Spielzeug verschlang, ich begann sofort wieder zu weinen.
    Ich weiß nicht warum, aber in jener Nacht ging etwas in mir zu Bruch, ein letzter Schutzwall, der weder bei der Trennung von Esther noch bei Isabelles Tod nachgegeben hatte. Vielleicht, weil der Tod von Fox mit dem Zeitpunkt zusammenfiel, da ich in meinem Lebensbericht schilderte, wie wir ihn an der Autobahn zwischen Zaragossa und Tarragona gefunden hatten; vielleicht auch nur, weil ich älter geworden war und meine Widerstandskraft nachließ. Auf jeden Fall rief ich mitten in der Nacht in Tränen aufgelöst Vincent an und hatte dabei den Eindruck, daß meine Tränen nie wieder versiegen würden und ich bis an mein Lebensende nichts anderes tun könnte als zu weinen. So etwas kommt vor, ich hatte es bereits bei manchen alten Leuten beobachtet: Manchmal ist ihr Gesicht ruhig und unbeweglich und ihr Geist wirkt

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