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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Journalisten: »Nun, Jeanne, glauben Sie wirklich nicht, daß Sie Ihre Tochter wiedersehen werden? Glauben Sie nicht, daß es hinterher noch etwas gibt?« unerbittlich und herrlich aufrichtig erwiderte: »Nein. Nichts. Es gibt nichts. Und ich werde meine Tochter nicht wiedersehen, da meine Tochter tot ist«, bis zum Schluß in meinen Worten und in meiner Haltung zur Wahrheit gestanden. Übrigens hatte ich in früheren Jahren Jeanne Calment in einem Sketch geehrt, in dem ich ihre ergreifende Aussage aufnahm: »Ich bin hundertundsechzehn Jahre alt und will nicht sterben.« Niemand hatte damals verstanden, daß ich die Ironie der reinen Verdopplung anwandte; ich bedauerte dieses Mißverständnis, bedauerte vor allem, daß ich nicht mehr Gewicht daraufgelegt und nicht genügend hervorgehoben hatte, daß ihr Kampf der Kampf der gesamten Menschheit war und im Grunde der einzige, der es wert war, geführt zu werden. Jeanne Calment war zwar gestorben, Esther hatte mich schließlich verlassen, und die Biologie war allgemeiner gesagt wieder zu ihrem Recht gekommen. Dennoch war das gegen unseren, gegen meinen, gegen Jeannes Willen geschehen, denn wir haben nicht die Waffen gestreckt und uns bis zum Schluß geweigert, mitzumachen und ein System zu billigen, das darauf abzielte, uns zu zerstören.
    Das Bewußtsein meines Heldenmuts sorgte dafür, daß ich einen ausgezeichneten Nachmittag verbrachte, dennoch beschloß ich bereits am folgenden Tag, nach Paris zurückzukehren, vermutlich aufgrund des Strands, der Brüste der Mädels und ihrer Schamhügel; auch in Paris gab es Mädels, aber man sah ihre Brüste und ihre Schamhügel weniger. Außerdem war das natürlich nicht der einzige Grund, auch wenn ich etwas Distanz (zu den Brüsten und den Schamhügeln) brauchte. Die Dinge, die mir am Tage zuvor durch den Kopf gegangen waren, hatten mich in einen solchen Zustand versetzt, daß ich mit dem Gedanken spielte, wieder etwas für die Bühne zu schreiben: eine radikale, harte Sache, im Vergleich zu der meine früheren Provokationen wie süßliches, humanistisches Geschwätz wirkten. Ich hatte meinen Agenten angerufen und mich mit ihm verabredet, um darüber zu sprechen; er war etwas überrascht, denn ich hatte ihm schon seit einer halben Ewigkeit gesagt, ich hätte es satt, sei ausgelutscht, total am Ende, so daß er es mir schließlich abgenommen hatte. Ich muß jedoch dazusagen, daß er angenehm überrascht war: Ich hatte ihm einige Schwierigkeiten bereitet, aber er hatte auch viel Geld an mir verdient, und insgesamt mochte er mich ganz gern.
    Im Flugzeug nach Paris verwandelte sich mein haßerfüllter Heldenmut unter der Wirkung eines Fläschchens Southern Comfort, das ich im Duty-free-Shop in Almeria gekauft hatte, in ein Selbstmitleid, das der Alkohol im Grunde ganz erträglich machte, und ich schrieb das folgende Gedicht, das für meine seelische Verfassung in den vergangenen Wochen durchaus charakteristisch war und das ich innerlich Esther widmete:
    Es gibt die Liebe nicht
    (Nicht wirklich, nicht genug)
    Wir leben ohne Beistand,
    Sterben allein und verlassen.
    Der Ruf nach Erbarmen
    Hallt durch die Leere,
    Unsere Körper sind verkrüppelt,
    Aber die Begierde des Fleisches bleibt.
    Verschwunden sind die Versprechen
    Eines jugendlichen Körpers,
    Wir gelangen ins Alter
    Wo uns nichts mehr erwartet
    Bis auf die unnütze Erinnerung
    An unsere vergangenen Tage,
    Das Auflodern von Haß
    Und nackte Verzweiflung.
    Auf dem Flughafen von Roissy trank ich einen doppelten Espresso, der mich wieder völlig ernüchterte, und bei der Suche nach meiner Kreditkarte fiel mir dieser Text in die Finger. Ich nehme an, daß es unmöglich ist, irgend etwas zu schreiben, ohne dabei eine gewisse Nervosität oder nervöse Erregung zu empfinden, die dazu führt, daß das, was man gerade schreibt, auch wenn es noch so düster ist, nicht augenblicklich eine deprimierende Wirkung ausübt. Mit etwas Abstand sieht man die Sache dann anders, und mir wurde sofort klar, daß dieses Gedicht nicht nur meiner seelischen Verfassung, sondern einer überall zu beobachtenden Realität entsprach: Wie stark auch immer meine Auflehnung, mein Protest, meine Verleugnung gewesen sein mochten, ich zählte jetzt ohne jeden Zweifel zur Kategorie der alten Leute, und das war unwiderruflich. Ich grübelte eine Weile über diesen betrüblichen Gedanken nach, etwa so, wie man lange auf etwas Bitterem herumkaut, um sich an den Geschmack zu gewöhnen. Es war vergeblich: Dieser

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