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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Leben vor sich; dann wandte er sich mit einem breiten Lächeln der Kamera zu, während die Inschrift DIE EWIGKEIT — IN ALLER SEELENRUHE auftauchte und das Bild überlagerte.
    Da wurde mir klar, warum sie zuvor alle mehr oder weniger verlegen geworden waren: Meine Entdeckung, daß das Glück den jungen Menschen vorbehalten ist und jede Generation zu einem bestimmten Zeitpunkt geopfert wird, war gar keine Entdeckung, alle hatten das hier genau begriffen; Vincent hatte das begriffen, Lucas hatte das begriffen, und die meisten Anhänger ebenfalls. Vermutlich war auch Isabelle die Sache schon lange klar gewesen, und sie hatte sich ohne wirkliche Gemütsbewegung umgebracht, einfach aufgrund einer rationalen Entscheidung, so als ob man verlangte, daß die Karten neu gemischt werden, wenn eine Partie von vornherein in einer Sackgasse steckt — zumindest bei den wenigen Spielen, in denen so etwas möglich ist. War ich dümmer als der Durchschnitt? fragte ich Vincent am selben Abend, während wir bei ihm einen Aperitif tranken. Nein, antwortete er ungerührt, was meine Intelligenz anginge, so sei sie eher leicht überdurchschnittlich, und moralisch gesehen, sei ich allen anderen vergleichbar: ein wenig sentimental, ein wenig zynisch, wie die meisten Männer. Ich sei nur besonders aufrichtig, und das sei meine ganz persönliche Eigenart; ich sei im Vergleich zu den in der Menschheit üblichen Normen fast unglaublich aufrichtig. Ich solle ihm diese Bemerkungen nicht übelnehmen, fügte er hinzu, all das hätte man bereits aus meinem großen Publikumserfolg ableiten können, und das sei auch der Grund, warum mein Lebensbericht einen so unvergleichlich hohen Wert habe. Was ich zu den Menschen sagte, werde von ihnen als authentisch, als wahr angesehen, und den Weg, den ich eingeschlagen hatte, konnten alle einschlagen, wenn sie sich ein wenig bemühten. Wenn ich mich bekehren ließ, dann hieß das, daß sich alle Menschen, meinem Beispiel folgend, bekehren lassen konnten. Er sagte das sehr ruhig und blickte mir dabei mit einem Ausdruck absoluter Ehrlichkeit fest in die Augen; außerdem wußte ich, daß er mich gern mochte. Da begriff ich erst richtig, was er vorhatte. Und da begriff ich auch, daß es ihm gelingen würde.
    »Wie viele Anhänger habt ihr jetzt?«
    »Siebenhunderttausend.« Er antwortete nach einem Bruchteil einer Sekunde, ohne nachzudenken. Und da begriff ich noch etwas, nämlich daß Vincent das wirkliche Oberhaupt der Kirche geworden war, er leitete sie. Der Professor widmete sich, so wie er es immer gewollt hatte, ausschließlich seiner wissenschaftlichen Arbeit; und Flic hatte sich Vincent untergeordnet, führte seine Befehle aus und setzte sich mit all seiner praktischen Intelligenz und seinem eindrucksvollen Arbeitseifer für ihn ein. Ganz offensichtlich hatte Vincent Lucas eingestellt; er hatte die Aktion MACHT DEN LEUTEN EINE FREUDE GEBT IHNEN SEX gestartet, und er hatte sie abgebrochen, sobald das Ziel erreicht war. Jetzt hatte er tatsächlich den Platz des Propheten eingenommen. Da erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch in seinem Haus in Chevilly-Larue und den Eindruck, den ich damals gehabt hatte, daß er kurz vor dem Selbstmord oder einem Nervenzusammenbruch stand. »Der Stein, den die Erbauer zurückgewiesen haben …«, sagte ich mir. Ich war weder neidisch noch eifersüchtig auf Vincent: Er war aus anderem Holz geschnitzt als ich; ich wäre nie imstande gewesen, das zu tun, was er tat. Er hatte viel erreicht, hatte aber auch viel gewagt, er hatte sein ganzes Wesen aufs Spiel gesetzt, alles in die Waagschale gelegt, und das schon seit langer Zeit, von Anfang an, er konnte auch gar nicht anders vorgehen, denn jeglicher Sinn für Berechnung und Strategie war ihm fremd. Ich fragte ihn, ob er noch immer an den Plänen für die Botschaft arbeite. Er senkte die Augen mit unerwarteter Scham, die ich schon lange nicht mehr bei ihm erlebt hatte, und sagte ja, er sei sogar bald fertig damit, wenn ich noch ein oder zwei Monate bleiben würde, könne er sie mir zeigen; und es wäre ihm sogar eine große Freude, wenn ich bliebe und der erste Besucher wäre — gleich nach Susan, denn die Sache ginge Susan direkt an.
    Selbstverständlich blieb ich. Nichts drängte mich, nach San Jose zurückzukehren, am Strand würden wahrscheinlich noch mehr Brüste und Schamhügel zu sehen sein, ich mußte zusehen, daß ich irgendwie damit zurechtkam. Der Immobilienhändler hatte mir ein Fax geschickt, ein Engländer hatte

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