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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Gedanke war nicht nur im ersten Augenblick deprimierend, auch bei weiterem Nachdenken blieb er unvermindert deprimierend.
    Der beflissene Empfang des Personals im Lutetia zeigte mir auf jeden Fall, daß man mich noch nicht vergessen hatte und meine Popularität nicht gelitten hatte. »Na, mal wieder hier zu tun?« fragte mich der Mann an der Rezeption mit einem verständnisvollen Lächeln, fast so, als wolle er wissen, ob er mir eine Nutte aufs Zimmer schicken sollte; ich bestätigte mit einem Augenzwinkern, was seinen Eifer verdoppelte und ihn zu der Bemerkung veranlaßte: »Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl…«, die er geradezu im Ton eines Gebets flüsterte. Doch schon in meiner ersten Nacht in Paris begann meine Motivation nachzulassen. An meinen Überzeugungen hatte sich nichts geändert, aber nun kam es mir etwas lächerlich vor, auf ein künstlerisches Ausdrucksmittel zurückzugreifen, während irgendwo auf der Welt und sogar ganz hier in der Nähe eine wirkliche Revolution stattfand. Zwei Tage später fuhr ich mit dem Zug nach Chevilly-Larue. Als ich Vincent auseinandersetzte, wie inakzeptabel das Opfer war, das heutzutage mit der Zeugung verbunden war, bemerkte ich, wie er zögerte und eine gewisse Verlegenheit zum Ausdruck brachte, die ich mir nur schwer erklären konnte.
    »Du weißt vielleicht, daß wir uns ziemlich stark in der child-free- Bewegung engagiert haben…«, antwortete er ein wenig ungeduldig. »Ich muß dir unbedingt Lucas vorstellen. Wir haben gerade einen Fernsehsender gekauft, oder besser gesagt Anteile an einem Sender, auf einem Kanal, der den neuen religiösen Bewegungen gewidmet ist. Er ist für das Programm verantwortlich, wir haben ihn für die gesamte PR-Arbeit eingestellt. Ich nehme an, er wird dir gefallen.«
    Lucas war um die Dreißig, hatte ein scharfgeschnittenes intelligentes Gesicht und trug einen schwarzen Anzug aus weichem Stoff und dazu ein weißes Hemd. Auch er hörte mir etwas befangen zu, ehe er mir den ersten Teil einer Serie von Werbespots vorführte, den sie bereits in der folgenden Woche in den meisten Kanälen mit weltweiter Ausstrahlung senden wollten. Er dauerte dreißig Sekunden und zeigte in einer einzigen Plansequenz, die unerträglich realistisch wirkte, ein sechsjähriges Kind, das einen Wutanfall in einem Supermarkt bekam. Es verlangte eine weitere Tüte Bonbons, zunächst mit weinerlicher Stimme — die schon ziemlich unangenehm war —, und als die Eltern sich weigerten, brüllte es wie am Spieß und wälzte sich am Boden, als würde es von Krämpfen geschüttelt, hielt jedoch ab und zu inne, um sich schnell mit einem listigen Blick zu vergewissern, ob es seine Eltern auch noch völlig in der Gewalt hatte; die anderen Kunden warfen ihm im Vorübergehen empörte Blicke zu, selbst die Verkäufer näherten sich dem Störenfried, und die Eltern, denen die Sache immer peinlicher wurde, knieten sich schließlich vor dem kleinen Scheusal nieder, nahmen alle Tüten mit Bonbons, die in ihrer Reichweite waren, und hielten sie ihm hin, als seien es Opfergaben. Das Bild blieb stehen, während auf dem Bildschirm in Großbuchstaben folgende Nachricht auftauchte: JUST SAY NO. USE CONDOMS.
    Die anderen Werbespots griffen mit der gleichen Überzeugungskraft die wesentlichen Elemente der elohimitischen Lebensweise auf — was die Sexualität, das Altern, den Tod, also die üblichen menschlichen Fragen betraf —, aber der Name der Kirche wurde nicht erwähnt, beziehungsweise erst ganz am Schluß in einer informativen Notiz, die fast subliminal war, so kurz war sie, und auf der nur die Angabe »elohimitische Kirche« und eine Telefonnummer zu lesen waren.
    »Mit den positiven Werbespots ist die Sache schon schwieriger…«. sagte Lucas halblaut. »Ich habe trotzdem einen gedreht, ich nehme an, du erkennst den Darsteller wieder…«Tatsächlich erkannte ich schon in den ersten Sekunden Flic wieder, der einen Overall aus Jeansstoff trug und in einem Schuppen am Ufer eines Flusses eine handwerkliche Arbeit verrichtete, die anscheinend darin bestand, ein Boot zu reparieren. Die Beleuchtung erzeugte einen prächtigen Moire-Effekt, die Wasserfläche hinter Flic funkelte in warmen Dunstschwaden, es war eine Atmosphäre im Stil der Jack-Daniels-Werbung, aber frischer, fröhlicher und ohne sprühende Lebendigkeit, wie ein Frühling, der die Beschaulichkeit des Herbstes hat. Flic arbeitete ruhig, ohne Hast, und machte den Eindruck, als habe er Spaß an der Sache und das ganze

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