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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Gegenoffensive in Betracht zu ziehen, mußten die angestammten Kirchen zusehen, wie die meisten ihrer Anhänger sie verließen und ihr Stern zugunsten des neuen Kults verblaßte, der noch dazu die Mehrzahl seiner Anhänger in wohlhabenden, atheistischen Kreisen modern eingestellter Menschen rekrutierte — mittlere Führungskräfte, leitende Angestellte und Beamte, um Lucas' Terminologie zu verwenden —, zu denen sie schon seit langem keinen Zugang mehr hatten.
    Da Vincent klar war, daß alles sehr gut lief und er von einem Mitarbeiterstab umgeben war, wie er besser nicht sein konnte, hatte er sich in den letzten Wochen immer mehr seinem großen Projekt gewidmet, und voller Erstaunen stellte ich fest, daß er wieder genauso schüchtern, verlegen und unsicher im Ausdruck war wie zu der Zeit, als ich ihn kennengelernt hatte. Er zögerte lange an jenem Morgen, ehe er mich sein Lebenswerk entdecken ließ. Wir standen vor dem Automaten, tranken einen Kaffee und dann einen zweiten. Er drehte den leeren Becher zwischen den Fingern und sagte schließlich zu mir: »Ich glaube, das ist meine letzte Arbeit…«, dann senkte er die Augen. »Susan ist einverstanden…«, fügte er hinzu. »Wenn es soweit ist… ich meine, wenn wir diese Welt verlassen, um auf die nächste Inkarnation zu warten, werden wir gemeinsam diesen Raum betreten; dann gehen wir bis in die Mitte, und dort trinken wir gemeinsam die tödliche Mischung. Weitere Räume werden nach dem gleichen Muster errichtet, damit alle Anhänger Zugang dazu haben können. Ich meine … ich meine, es ist wichtig, für diesen Augenblick einen formalen Rahmen zu schaffen.« Er verstummte und blickte mir fest in die Augen. »Es war eine schwierige Arbeit…«, sagte er. »Ich habe dabei viel an Baudelaires Tod der Armen gedacht; das hat mir sehr geholfen.«
    Die erhebenden Verse kamen mir sogleich wieder ins Gedächtnis, als seien sie in einem Winkel meines Hirns schon immer gegenwärtig gewesen und mein ganzes Leben nur ein mehr oder minder deutlicher Kommentar dieser Worte:
     
    Es ist der Tod, der Trost gibt, ach, und Leben schenkt;
    Er ist das einzge Ziel des Daseins, das wir sehen,
    Er ist die Hoffnung, die mit ihrem Rausch uns tränkt
    Wie Wein und Mut macht, bis zum Abend durchzustehen;
    Er ist das Licht, das, tief am Horizont versenkt,
    Herflimmert durch den Trost, durch Sturm und Flockenwehen,
    Er ist der Gasthof, den das Buch mit Lob bedenkt,
    In dem man essen kann, ausruhn und schlafen gehen.
    Ich nickte; was sollte ich auch sonst tun? Dann betrat ich den Gang, der zu der Halle führte. Sobald ich die hermetisch schließende Panzertür des Gebäudes geöffnet hatte, wurde ich von gleißendem Licht geblendet, und dreißig Sekunden lang konnte ich nichts erkennen; die Tür schloß sich mit einem dumpfen Geräusch hinter mir.
    Nach und nach gewöhnte sich mein Blick an die Helle, und ich erkannte Formen und Umrisse; das ähnelte ein wenig der computergesteuerten Simulation, die ich auf Lanzarote gesehen hatte, aber die Helligkeit war noch strahlender, er hatte wirklich mit Weiß in Weiß gearbeitet, und es war nicht mehr von Musik, sondern nur noch von einem leichten Summen begleitet, wie vibrierende Sphärengeräusche. Ich hatte den Eindruck, mich in einem milchigen isotropen Raum zu bewegen, der sich manchmal ganz plötzlich in körnigen Mikroformationen niederschlug — als ich näher heranging, sah ich Gebirge, Täler, ganze Landschaften, die schnell komplexer wurden und fast sofort wieder verschwanden, und dann tauchte die Szenerie wieder in eine verschwommene Einheitlichkeit ein, die von oszillierenden Potentialitäten durchzogen wurde. Seltsamerweise sah ich meine Hände und meinen übrigen Körper nicht mehr. Ich verlor sehr schnell jeglichen Orientierungssinn und hatte plötzlich den Eindruck, Schritte zu hören, die wie ein Echo meiner Schritte wirkten: Wenn ich stehenblieb, verstummten auch diese Schritte, aber mit einer leichten Verzögerung. Als ich den Blick nach rechts wandte, bemerkte ich eine Silhouette, die alle meine Bewegungen nachahmte und sich vom gleißenden Weiß der Atmosphäre nur durch einen etwas matteren Weißton unterschied. Das beunruhigte mich etwas; sogleich verschwand die Silhouette. Meine Unruhe verflüchtigte sich; die Silhouette tauchte wieder auf, geradezu als käme sie aus dem Nichts. Nach und nach gewöhnte ich mich an ihre Gegenwart und setzte meine Erkundungen fort; es schien mir immer offensichtlicher zu sein, daß Vincent

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