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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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fraktale Strukturen verwandt hatte, ich erkannte Sierpinski-Dreiecke und Mandelbrot-Mengen wieder, und die Rauminstallation selbst schien sich in dem gleichen Rhythmus zu verändern, wie mir die Sache bewußt wurde. In dem Augenblick, als ich den Eindruck hatte, daß sich der Raum um mich herum in Cantor-Drittelmengen aufsplitterte, verschwand die Silhouette, und es wurde völlig still. Ich hörte nicht einmal mehr meinen eigenen Atem, und da begriff ich, daß ich selbst zum Raum geworden war. Ich war das Universum, und ich war die Erscheinungswelt, die glitzernden Strukturen, die auftauchten, erstarrten und sich dann wieder im Raum auflösten, waren Teil meiner selbst, und bei jedem Auftauchen, bei jedem Verschwinden spürte ich, daß sich die Sache in meinem Körper abspielte, daß es meine Reaktionen waren. Und plötzlich erfaßte mich der starke Wunsch zu verschwinden, in einem leuchtenden, aktiven Nichts aufzugehen, in dem fortwährende Potentialitäten vibrierten. Die Helligkeit wurde wieder blendend, der Raum um mich herum schien zu explodieren und sich in Lichtparzellen aufzuteilen, aber es handelte sich nicht um einen Raum im üblichen Sinn, er besaß zahlreiche Dimensionen, und jede andere Wahrnehmung hatte aufgehört — dieser Raum enthielt im üblichen Sinn nichts. Ich verharrte eine Zeitlang, die ich nicht genauer bestimmen kann, inmitten der Potentialitäten ohne Form oder, besser gesagt, jenseits von Form und Formlosigkeit; dann tauchte etwas in mir auf, das anfangs kaum zu spüren war, so etwas wie eine Erinnerung an das Gefühl der Schwere oder ein Traum von diesem Gefühl; und da wurden mir wieder meine Atmung und die drei Dimensionen des Raumes bewußt, der nach und nach regungslos wurde; Gegenstände wurden wieder als diskrete weiße Emanationen rings um mich sichtbar, und ich konnte die Halle verlassen.
    Es war vermutlich unmöglich, sagte ich wenig später zu Vincent, länger als etwa zehn Minuten an einem solchen Ort lebendig zu bleiben. »Ich nenne diesen Ort die Liebe«, sagte er. »Der Mensch hat nur in der Unsterblichkeit lieben können, nirgendwo sonst; wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb die Frauen der Liebe näher waren, wenn sie den Auftrag hatten, Leben zu schenken. Wir haben die Unsterblichkeit und ein gemeinsames Dasein mit der Welt wiedergefunden; die Welt hat nicht mehr die Macht, uns zu zerstören, im Gegenteil, jetzt haben wir die Macht, sie durch die Kraft unseres Blicks zu erschaffen. Wenn wir uns unsere Unschuld bewahren und allein dem Blick zustimmen, bewahren wir uns auch die Liebe.«
    Nachdem ich mich von Vincent verabschiedet hatte und im Taxi saß, beruhigte ich mich allmählich wieder; doch meine seelische Verfassung war noch ziemlich chaotisch, als wir durch die Pariser Vorstädte fuhren, und erst nachdem die Porte d'Italie hinter uns lag, fand ich die Kraft wieder, ironisch zu reagieren und mir innerlich zu sagen: »Wie ist das nur möglich! Dieser große Künstler, dieser Erfinder von Wertvorstellungen hat noch immer nicht begriffen, daß die Liebe tot ist!« Und dann überkam mich ein trauriges Gefühl, als ich feststellte, daß ich noch nicht darauf verzichtet hatte, das zu sein, was ich während meiner ganzen Laufbahn gewesen war: eine Art Zarathustra der Mittelschicht.
    Der Mann an der Rezeption im Lutetia fragte mich, ob ich einen angenehmen Aufenthalt gehabt hätte. »Das war Spitze«, erwiderte ich, während ich meine Kreditkarte suchte, »ein absoluter Hammer!« Anschließend wollte er wissen, ob sie das Vergnügen hätten, mich bald wiederzusehen. »Nein, das glaube ich nicht…«, antwortete ich, »ich glaube nicht, daß ich Gelegenheit habe, in der nächsten Zeit wiederzukommen.«
     
     

Daniel25,15
    »Wir wenden unsere Blicke dem Himmel zu, und der Himmel ist leer«, schreibt Ferdinand12 in seinem Kommentar. Ungefähr in der zwölften Generation der Neo-Menschen tauchten die ersten Zweifel über das Kommen der Zukünftigen auf — also etwa ein Jahrtausend nach den Ereignissen, die Daniel1 schildert; etwa zur gleichen Zeit sind die ersten Fälle von Neo-Menschen bekanntgeworden, die abtrünnig wurden.
    Ein weiteres Jahrtausend ist inzwischen verstrichen, die Lage ist beständig geblieben, und der Prozentsatz der Abtrünnigen ist noch der gleiche. Der menschliche Denker Friedrich Nietzsche, der sich als erster von den wissenschaftlichen Gegebenheiten gelöst und damit eine Tradition eingeführt hat, die die Philosophie dem Untergang weihte, sah im

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