Die Mglichkeit einer Insel
Samenergüsse, die die Pflegerinnen zur Verzweiflung bringen — wobei ich mir jedoch ständig sagte, daß ich es nicht soweit kommen lassen und rechtzeitig Schluß machen würde, da ich ja immerhin eine gewisse Würde besäße (wofür es jedoch in meinem bisherigen Leben kein einziges Beispiel gab). Vielleicht war es doch gar nicht so sicher, daß ich Selbstmord begehen würde, vielleicht gehörte ich zu den Menschen, die bis zum Schluß ihre Umgebung nerven, vor allem da ich genug Kohle hatte, um eine beachtliche Anzahl von Leuten zu nerven. Ich haßte die Menschheit, das stand fest, ich hatte sie von Anfang an gehaßt, und da das Unglück bösartig macht, haßte ich sie heute noch viel mehr. Gleichzeitig war ich zu einem harmlosen Hündchen geworden, das sich von einem Stück Zucker besänftigen ließ (ich dachte nicht einmal unbedingt an Esthers Körper, ich hätte mich mit allem zufriedengegeben: mit einer Brust, einem Schamhügel); aber niemand würde mir das Stück Zucker reichen, und es sah so aus, als würde ich mein Leben so beenden, wie ich es begonnen hatte: mutterseelenallein und voller Wut, in einem Zustand haßerfüllter Panik, die noch durch die sommerliche Hitze verstärkt wurde. Weil die Menschen einmal der Tierwelt angehört haben, sprechen sie noch heute so oft über das Wetter und das Klima: das ist eine primitive Erinnerung, die die Sinnesorgane geprägt hat und mit den Überlebensbedingungen vorgeschichtlicher Zeiten verbunden ist. Diese begrenzten, stereotypen Gespräche sind jedoch noch immer das Zeichen für ein echtes Problem: Obwohl wir in Häusern wohnen, in denen wir aufgrund einer erprobten, zuverlässigen Technik die Garantie stabiler klimatischer Bedingungen haben, sind wir unfähig, uns von diesem tierischen Atavismus zu lösen; daher können wir uns unserer Schändlichkeit und unseres Unglücks wie ihres endgültigen, unumstößlichen Charakters paradoxerweise nur dann wirklich bewußt werden, wenn die klimatischen Bedingungen dafür günstig genug sind.
Nach und nach näherte sich die Zeit des Berichts der Zeit meines wirklichen Lebens; am 17. August brachte ich bei furchtbarer Hitze meine Erinnerungen an die Geburtstagsparty in Madrid zu Papier — die auf den Tag genau ein Jahr zuvor stattgefunden hatte. Meinen letzten Aufenthalt in Paris und Isabelles Tod erwähnte ich nur ganz kurz: All das schien mir schon auf den vorangegangenen Seiten enthalten zu sein, es war gewissermaßen nur eine logische Folge daraus und gehörte in den Bereich des allgemeinen Schicksals der Menschheit, ich dagegen wollte Pionierarbeit leisten und etwas Neues, Aufsehenerregendes beitragen.
Die Lüge war mir jetzt in ihrem ganzen Ausmaß ersichtlich: Sie dehnte sich auf alle Bereiche des menschlichen Daseins aus und war auf der ganzen Welt verbreitet. Die Philosophen hatten sie ausnahmslos akzeptiert und fast alle Literaten, sie war vermutlich für das Überleben der Spezies erforderlich, und Vincent hatte recht: Mein Lebensbericht würde, sobald er verbreitet und kommentiert worden war, mit der Menschheit, so wie wir sie kannten, Schluß machen. Mein Auftraggeber, um einen Begriff der Mafia zu verwenden (schließlich handelte es sich ja tatsächlich um ein Verbrechen und sogar buchstäblich um ein Verbrechen gegen die Menschheit ), konnte zufrieden sein. Der Mensch würde eine andere Richtung einschlagen; er würde sich verwandeln.
Ehe ich meinen Bericht abschloß, dachte ich noch ein letztes Mal an Vincent zurück, der mich zu diesem Buch angeregt und als einziger in mir ein Gefühl erweckt hatte, das meiner Natur ziemlich fremd war: Bewunderung. Mit Recht hatte Vincent in mir die Fähigkeiten zu einem Spion und zu einem Verräter entdeckt. Es hatte schon viele Spione, viele Verräter in der Geschichte der Menschheit gegeben (so viele aber auch wieder nicht, nur in regelmäßigen Abständen den einen oder den anderen, dagegen war es auffällig, daß sich die Menschen meistens wie brave Tiere verhalten hatten, genauso bereitwillig wie ein Rind, das fröhlich auf den Lastwagen geht, der es zum Schlachthof bringt); aber ich war vermutlich der einzige, der in einer Zeit lebte, in der die technischen Voraussetzungen es ermöglichten, meinem Verrat eine tragende Wirkung zu verleihen. Ich würde im übrigen dadurch, daß ich die Sache in Begriffe faßte, eine unabwendbare historische Entwicklung nur beschleunigen. Die Menschen würden in zunehmendem Maß den Wunsch haben, in völliger Freiheit zu leben,
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