Die Mglichkeit einer Insel
kannte.
»Er hat sich umgebracht. Er hat sich umgebracht, nachdem er sie in einem Film gesehen hat, Una mujer desnuda, in dem sie die Titelrolle spielte — es war eine Verfilmung des Romans einer jungen Italienerin, der damals ziemlich viel Erfolg hatte und in dem sie schilderte, wie sie zahllose sexuelle Erfahrungen gemacht hatte, ohne je die geringste Gefühlsregung dabei zu empfinden. Ehe er sich umbrachte, schrieb er ihr noch einen letzten Brief, in dem er seinen geplanten Selbstmord mit keinem Wort erwähnte (sie erfuhr erst aus der Presse davon); ganz im Gegenteil, es war ein Brief in fröhlichem, fast euphorischem Ton, in dem er seine Zuversicht ausdrückte, was die Zukunft ihrer Liebe und die Lösung der oberflächlichen Probleme anging, die seit ein oder zwei fahren ihre Beziehung trübten. Dieser Brief hat einen katastrophalen Einfluß auf Marie23 gehabt und sie dazu veranlaßt, fortzugehen; er war der Grund dafür, daß sie sich ausmalte, es habe sich irgendwo eine Gemeinschaft von Menschen oder Neo-Menschen gebildet — so genau wußte sie das nicht —, und dafür, daß sie eine neue Form individueller Beziehungen entdeckte und zu der Überzeugung kam, die radikale Trennung, die unter uns üblich ist, könne schon jetzt abgeschafft werden, ohne die Ankunft der Zukünftigen abzuwarten. Ich habe versucht, sie zur Vernunft zu bringen, und ihr erklärt, daß dieser Brief nur eine Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten Ihres Vorgängers erkennen ließ und ein letzter, verzweifelter Versuch war, die Realität zu leugnen; daß diese ewige Liebe, von der er sprach, nur in seiner Phantasie existierte und Esther ihn in Wirklichkeit nie geliebt hatte. Doch es half alles nichts; Marie23 schrieb diesem Brief und besonders dem Gedicht, mit dem er endet, eine ungeheure Bedeutung zu.«
»Und Sie sind da anderer Ansicht?«
»Ich muß zugeben, daß es ein erstaunlicher Text ist, ohne jede Ironie und ohne jeden Sarkasmus, ganz anders, als man es sonst von ihm gewohnt ist; ich finde den Text sogar recht ergreifend. Aber das ist noch längst kein Grund, ihm eine solche Bedeutung beizumessen … Nein, ich bin nicht einverstanden. Marie23 war wahrscheinlich selbst nicht sehr ausgeglichen; anders kann ich es mir nicht erklären, weshalb sie den letzten Vers als eine konkrete, verwertbare Information interpretiert hat.«
Esther31 hatte sicherlich mit meiner anschließenden Bitte gerechnet, denn es dauerte nur zwei Minuten — in der sie den Text eingab —, bis ich das letzte Gedicht entdeckte, das Daniel an Esther richtete, bevor er sich umbrachte; ebenjenes Gedicht, das Marie23 dazu veranlaßt hatte, ihr Haus, ihre Gewohnheiten und ihr bisheriges Leben aufzugeben, um sich auf die Suche nach einer hypothetischen neo-menschlichen Gemeinschaft zu machen:
Mein Leben, mein altes, uraltes Leben
Mein erster schlecht verheilter Wunsch
Meine erste gescheiterte Liebe
Mit Sehnsucht habe ich dich erwartet.
Mit Sehnsucht wollte ich das kennenlernen,
Was das Leben an Schönstem birgt,
Wenn zwei Körper das höchste Glück erfahren,
Sich vereinigen und stets neugeboren werden.
Meine Abhängigkeit ist grenzenlos,
Ich kenne das Beben des Seins,
Das Zaudern zu verschwinden,
Die Sonne, die die Ränder auf dem Feldrain trifft
Und die Liebe, die alles so leicht macht,
Dir alles schenkt, und zwar sogleich;
Es gibt in der Mitte der Zeit
Die Möglichkeit einer Insel.
Dritter Teil
Abschließender Kommentar
Epilog
»Was existierte
außerhalb der Welt?«
Es war Anfang Juni, und trotz der niedrigen Breite ging die Sonne schon gegen vier Uhr auf; die Verschiebung der Rotationsachse der Erde hatte abgesehen von der Großen Dürre noch weitere vergleichbare Folgen gehabt.
Wie alle Hunde hatte Fox keine festen Zeiten, zu denen er schlief: Er schloß die Augen, wenn ich ins Bett ging, und wachte gleichzeitig mit mir auf. Er folgte mir neugierig, als ich durch die Zimmer lief, um einen leichten Rucksack zu packen, den ich mir über die Schultern streifte, und wedelte erfreut, als ich die Residenz verließ und auf den Elektrozaun zuging; normalerweise machten wir unseren ersten täglichen Spaziergang viel später.
Als ich auf den Knopf der Fernbedienung für das elektronische Entriegelungssystem drückte, warf er mir einen überraschten Blick zu. Die Metallräder drehten sich langsam um ihre eigene Achse und öffneten das drei Meter breite Tor, nach ein paar Schritten befand ich mich draußen. Fox warf mir wieder
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