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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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dem Alter war, in dem sich solche Sinnesempfindungen erwecken lassen. Ich war überzeugt, daß weder Marie23, obwohl sie abtrünnig geworden war, noch Marie22, trotz der seltsamen Episode kurz vor ihrem Tod, die mein Vorgänger geschildert hat, jemals eine Form von sinnlicher Begierde empfunden hatten. Was sie dagegen empfunden hatten, war eine äußerst schmerzhafte Sehnsucht nach dieser Begierde, war das Bedürfnis, sie zu erfahren und sich wie ihre fernen Vorfahren von dieser Kraft, die so machtvoll zu sein schien, überwältigen zu lassen. Auch wenn sich Daniel1 ausführlich mit dem Thema der Sehnsucht nach der sinnlichen Begierde beschäftig hat, bin ich bisher von diesem Phänomen verschont geblieben, so daß ich mit Esther31 in aller Ruhe die Beziehungen unter unseren jeweiligen Vorgängern in allen Einzelheiten erörtern kann; sie bleibt ihrerseits mindestens ebenso kühl dabei, und so trennen wir uns ohne Bedauern und ohne Erregung nach unseren sporadischen Intermediationen und wenden uns wieder unserem ruhigen, beschaulichen Leben zu, das den Menschen im klassischen Zeitalter vermutlich unerträglich langweilig vorgekommen wäre.
    Die Existenz einer residuellen geistigen Tätigkeit, die keinerlei Interessen verfolgt und der reinen Erkenntnis gewidmet ist, ist einer der Grundpfeiler der Lehre der Höchsten Schwester; nichts hat bisher erlaubt, diese Existenz in Frage zu stellen.
    Ein beschränkter Kalender mit winzigen Episoden der Anmut (zum Beispiel wenn die Sonnenstrahlen über die Fensterläden gleiten oder wenn ein plötzlich aufkommender heftiger Nordwind Wolkentürme mit drohenden Konturen vertreibt) verleiht meinem Dasein, dessen genaue Dauer ein unwichtiger Faktor ist, einen gewissen Rhythmus. Ich bin mit Daniel24 identisch und weiß, daß ich in Daniel26 einen ebensolchen Nachfolger haben werde. Den begrenzten Erinnerungen, die wir von unserem jeweiligen Dasein haben, das mit dem unserer Vorgänger im wesentlichen identisch ist, fehlt die erforderliche Tiefenschärfe, um als Grundlage für eine individuelle Bearbeitung mit romanhaftem Charakter zu dienen. Das Leben der Menschen verläuft im großen und ganzen in den gleichen Bahnen, und diese geheime Wahrheit, die innerhalb des gesamten historischen Zeitalters verschleiert worden ist, konnte erst bei den Neo-Menschen Gestalt annehmen. Wir haben das unvollständige Paradigma der Form verworfen und trachten statt dessen danach, uns die Welt der unzähligen Potentialitäten zu eigen zu machen. Wir haben das Zwischenspiel des Werdens wieder geschlossen und schon jetzt einen grenzenlosen, unbestimmten Zustand der Stase erreicht.
     
     

Daniel1,28
    Es ist September, die letzten Urlauber reisen bald wieder ab, und mit ihnen die letzten Brüste, die letzten Schamhügel; die letzten zugänglichen Mikro-Welten. Ein endloser Herbst erwartet mich, gefolgt von einem siderischen Winter. Und diesmal habe ich meine Aufgabe wirklich beendet, ich habe die allerletzten Minuten überschritten, meine Gegenwart hier hat keine Berechtigung mehr, keine menschliche Beziehung, kein festzulegendes Ziel erwartet mich mehr. Dennoch ist da etwas, etwas Furchtbares, das im Raum schwebt und sich anscheinend nähern möchte. Noch keine Trauer, noch kein Kummer, noch kein deutlich bestimmbarer Mangel, sondern etwas anderes, das man das nackte Entsetzen vor dem Raum nennen könnte. War das das letzte Stadium? Was hatte ich getan, um ein solches Schicksal zu verdienen? Was hatten ganz allgemein die Menschen getan? Ich spüre jetzt keinen Haß mehr in mir, nichts mehr, an das ich mich klammern kann, keinen Anhaltspunkt und keinen Hinweis; nur noch die Angst, die Wahrheit aller Dinge, eine Angst, die in allem der beobachtbaren Welt gleicht. Es gibt keine reale, keine sinnlich erfaßbare, keine menschliche Welt mehr, ich habe die Zeit hinter mir gelassen, habe weder Vergangenheit noch Zukunft mehr, habe keine Trauer, keine Pläne, keine Sehnsucht, keine Selbstaufgabe und keine Hoffnung mehr; da ist nur noch Angst.
    Der Raum kommt, nähert sich, versucht mich zu verschlingen. Mitten im Zimmer ist ein leises Geräusch zu hören. Die Gespenster sind da, sie bilden den Raum, umgeben mich. Sie ernähren sich von den toten Augen der Menschen.
     
     

Daniel25,17
    So endet der Lebensbericht von Daniel1; ich bedauerte dieses jähe Ende. Seine ganz am Schluß entwickelten Zukunftsvisionen von der Psychologie der Gattung, die die Menschheit ersetzen würde, waren ziemlich erstaunlich; wenn er

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