Die Mglichkeit einer Insel
sie weiter ausgeführt hätte, hätten wir ihnen, so scheint mir, nützliche Hinweise entnehmen können.
Meine Vorgänger teilen diese Einschätzung nicht. Ein zwar aufrichtiger, aber ziemlich beschränkter, bornierter Mensch, an dem die Beschränkungen und Widersprüche, die seine Gattung ins Verderben führen sollten, deutlich zum Ausdruck kamen: So lautet das strenge Urteil, das sie in Anlehnung an Vincent1 recht einhellig über unseren gemeinsamen Vorfahren abgegeben haben. Wenn er länger gelebt hätte, behaupten sie, wäre er angesichts der Aporien, die seine Natur kennzeichneten, weiterhin zyklothymen Schwankungen zwischen Mutlosigkeit und Hoffnung ausgesetzt gewesen und gleichzeitig in einen Zustand zunehmender Verlassenheit verfallen, die mit dem Altern und dem Verlust der vitalen Energie verbunden war; sein letztes Gedicht, das er während des Flugs von Almeria nach Paris geschrieben hatte, ist, wie sie bemerken, derart symptomatisch für die geistige Verfassung der Menschen zu jener Zeit, daß es als Motto für Verlassenheit, Senior-Attitüde, das klassische Werk von Hatchett und Rawlins, hätte dienen können.
Mir war durchaus klar, wie stichhaltig ihre Argumente waren, und ich muß zugeben, daß ich nur aufgrund einer leisen, kaum spürbaren Intuition versucht habe, mehr über die Sache zu erfahren. Esther31 weigerte sich zunächst strikt, auf meine Bitte einzugehen. Selbstverständlich hatte sie den Lebensbericht von Esther1 gelesen und sogar ihren Kommentar dazu beendet; aber es schien ihr nicht angebracht, daß ich darin Einblick nahm.
»Wissen Sie …«, schrieb ich ihr (wir waren schon seit langem in den nicht-visuellen Modus übergegangen), »ich stehe meinem Vorfahren nicht sonderlich nah …«
»Man steht den eigenen Vorfahren immer näher, als man glaubt«, erwiderte sie ziemlich barsch.
Ich begriff nicht, was sie auf den Gedanken brachte, daß diese Geschichte, die sich vor zweitausend Jahren abgespielt hatte und Menschen des früheren Geschlechts betraf, noch heute irgendeinen Einfluß haben könne. »Sie hat aber eine Wirkung, und zwar eine ausgesprochen negative …«, war ihre rätselhafte Antwort.
Doch ich ließ nicht locker, bis sie schließlich nachgab und mir berichtete, was sie über die letzten Wochen der Beziehung zwischen Daniel1 und Esther1 wußte. Am 23. September, zwei Wochen nachdem er seinen Lebensbericht beendet hatte, rief er sie an. Sie haben sich letztlich nie wiedergesehen, aber er hat sie noch mehrfach angerufen; sie antwortete zunächst sanft, aber sehr bestimmt, daß sie ihn nicht wiedersehen wolle. Als er feststellte, daß er so nichts erreichte, ging er dazu über, ihr SMS-Nachrichten und dann E-Mails zu schicken, und schließlich verlor er ganz den Kontakt zu ihr, was ihm einen harten Schlag versetzte. Als er feststellte, daß er nicht mehr die geringste Chance hatte, eine Antwort zu erhalten, räumte er Esther ganz offen eine völlige sexuelle Freiheit ein und gratulierte ihr sogar dazu, dann machte er immer mehr unanständige Anspielungen, rief ihr die erotischsten Momente ihrer Beziehung ins Gedächtnis, schlug ihr vor, sie könnten gemeinsam Swingerclubs besuchen, frivole Videofilme drehen und neue Erfahrungen machen; es war richtig ergreifend und ein wenig abstoßend. Am Schluß schrieb er ihr zahlreiche Briefe, die unbeantwortet blieben. »Er hat sich erniedrigt…«, kommentierte Esther31, »er hat sich auf die widerlichste Weise in der Erniedrigung gesuhlt. Er hat ihr sogar Geld angeboten, viel Geld, um noch einmal eine Nacht mit ihr zu verbringen; das war schon deswegen völlig absurd, weil sie inzwischen als Schauspielerin selbst ziemlich viel verdiente. Ganz zuletzt fing er an, in der Nähe ihrer Wohnung in Madrid herumzulungern — sie ist ihm mehrfach in Bars begegnet und bekam allmählich Angst. Sie hatte damals gerade einen neuen Freund, mit dem sie sich in jeder Hinsicht gut verstand — sie verspürte große Lust, wenn sie sich liebten, was mit Ihrem Vorgänger nie wirklich der Fall gewesen war. Sie hatte sogar erwogen, sich an die Polizei zu wenden, aber er begnügte sich damit, durch ihr Viertel zu streifen, ohne je zu versuchen, mit ihr in Kontakt zu treten, und schließlich ist er verschwunden.«
Ich war nicht überrascht, all das entsprach durchaus dem, was ich über die Persönlichkeit von Daniel1 wußte. Ich fragte Esther31, was anschließend geschehen sei — wobei mir völlig klar war, daß ich auch hier die Antwort schon
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