Die Mglichkeit einer Insel
die Buddhisten nennen, hatte die Höchste Schwester es für sinnvoll gehalten, nur eine abgeschwächte, untragische, ausschließlich lebenserhaltende Energie zu bewahren, die ausreichend war, um das Denkvermögen zu gewährleisten — der Denkvorgang wurde dadurch zwar verlangsamt, aber die Gedanken wurden zugleich präziser und scharfsinniger, sie wurden gleichsam befreit. Doch dieses Ergebnis wurde nur in unbedeutendem Maße erreicht, und statt dessen waren unsere dem Körperlichen entfremdeten Generationen in Trauer, Melancholie und zunehmende Apathie verfallen, die sich schließlich tödlich auswirkte. Das offenkundigste Zeichen für diesen Mißerfolg war die Tatsache, daß ich am Schluß Daniel1 um sein Schicksal, seinen ungestümen und widersprüchlichen Lebensweg und die leidenschaftliche Liebe, die ihn beseelt hatte, beneidete — trotz des Leids, das er erfahren hatte, und trotz seines tragischen Endes.
Seit Jahren führte ich jeden Morgen nach dem Aufwachen die von der Höchsten Schwester empfohlenen Übungen durch, die Buddha in seiner Predigt über die Grundlagen der Aufmerksamkeit definiert hat: »Und so verharrt er und beobachtet den Körper von innen; er verharrt und beobachtet den Körper von außen; er verharrt und beobachtet den Körper von innen und von außen. Er verharrt und beobachtet, wie der Körper auftaucht; er verharrt und beobachtet, wie der Körper verschwindet; er verharrt und beobachtet, wie der Körper auftaucht und wieder verschwindet. ›Da ist der Körper‹: Diese Selbstbeobachtung ist ihm gegenwärtig, nur mit dem Ziel der Erkenntnis, nur mit dem Ziel des Nachdenkens, und so verharrt er in Freiheit und bindet sich an nichts in der Welt.« Seit Beginn meines Lebens bin ich mir ständig meiner Atmung, des kinästhetischen Gleichgewichts meines Organismus und seines unbeständigen Allgemeinzustands bewußt gewesen. Die ungeheure Freude, die Daniel1 bei der Erfüllung seiner Begierde erfüllte, die völlige Wandlung seines körperlichen Befindens und vor allem der Eindruck, in eine andere Welt versetzt worden zu sein, den er bei der Penetration eines weiblichen Wesens empfand, war etwas, was ich nie erlebt und von dem ich nicht die geringste Vorstellung hatte, und daher hatte ich jetzt das Gefühl, unter diesen Umständen nicht weiterleben zu können.
Das Morgengrauen zog feucht über der bewaldeten Landschaft herauf, und mit ihm kamen sanfte Träume, die ich nicht verstand. Und meine Augen füllten sich mit Tränen, deren salziger Kontakt mir sehr seltsam erschien. Anschließend tauchte die Sonne auf, mit ihr kamen Schwärme von Insekten; da begann ich zu begreifen, wie das Leben der Menschen ausgesehen hatte. Meine Handflächen und Fußsohlen waren von Hunderten von Bläschen bedeckt, es juckte fürchterlich, und ich kratzte mich gut zehn Minuten lang wie besessen, bis ich blutüberströmt war.
Später, als wir ein Gelände mit dichtem Gras erreichten, gelang es Fox, ein Kaninchen zu fangen; mit einer blitzschnellen Bewegung brach er ihm das Genick, dann nahm er das kleine bluttropfende Tier und legte es mir vor die Füße. Ich wandte den Kopf ab, als er die Eingeweide zu verschlingen begann; das war das Gesetz der Natur.
In der darauffolgenden Woche gingen wir durch eine hügelige Landschaft, die meiner Karte nach der Sierra de Gádor entsprechen mußte; der Juckreiz ließ nach oder, besser gesagt, ich gewöhnte mich an diesen ständigen Schmerz, der gegen Ende des Tages zunahm, ebenso wie ich mich an die Schmutzschicht gewöhnte, die meine Haut bedeckte, und an meinen stärker ausgeprägten Körpergeruch.
Eines Morgens wachte ich kurz vor Tagesanbruch auf, ohne die Körperwärme von Fox zu spüren. In panischer Angst stand ich auf. Er war ein paar Meter von mir entfernt und scheuerte sich an einem Baum, wobei er wütend nieste; er hatte offensichtlich eine schmerzhafte Stelle am Hals, hinter den Ohren. Ich ging zu ihm und nahm seinen Kopf sanft in die Hände. Als ich ihm das Fell glättete, entdeckte ich ziemlich bald eine kleine, mehrere Millimeter breite graue Wölbung: Es war eine Zecke, ich erkannte sie, weil ich deren Beschreibung in einem Werk über die Biologie der Tiere gefunden hatte. Ich wußte, daß es nicht so einfach war, diesen Parasiten zu entfernen; ich kehrte zu meinem Rucksack zurück, entnahm ihm eine Pinzette und eine mit Alkohol getränkte Kompresse. Fox stieß einen leisen Klagelaut aus, rührte sich aber nicht, während ich ihn verarztete: Millimeter
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