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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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für Millimeter zog ich das Tier langsam aus seinem Fleisch; es hatte einen grauen zylinderförmigen fleischigen Körper von abstoßendem Äußeren, der sich mit dem Blut von Fox vollgesogen hatte; das war das Gesetz der Natur.
    Am ersten Tag der zweiten Woche stieß ich im Verlauf des Vormittags plötzlich auf eine breite Verwerfung, die mir den Weg in Richtung Westen versperrte. Ich wußte aufgrund der Satellitenaufnahmen, daß es sie gab, hatte aber geglaubt, es sei möglich, sie zu durchqueren, um meinen Weg fortzusetzen. Die bläulichen Basaltwände verliefen völlig senkrecht und fielen mehrere hundert Meter in die Tiefe ab, wo sich ein unebenes Gelände befand, das aus einer Mischung von schwarzem Gestein und Schlammseen zu bestehen schien. In der klaren Luft konnte man die kleinsten Einzelheiten in der gegenüberliegenden Felswand erkennen, die gut zehn Kilometer entfernt sein mochte: Sie fiel ebenso steil ab.
    Den aufgrund von Luftaufnahmen angefertigten Landkarten konnte man zwar nicht entnehmen, daß diese Verwerfung unüberwindbar war, sie zeigten jedoch ihren Verlauf sehr genau an: Sie begann etwa in dem Gebiet, wo sich früher Madrid befunden hatte (die Stadt war im Laufe einer der letzten Phasen der menschlichen Konflikte durch eine Reihe von Atomexplosionen zerstört worden), zog sich durch ganz Südspanien hin und dann durch eine sumpfige Zone, die dem entsprach, was einmal das Mittelmeer gewesen war, und setzte sich dann bis tief in den afrikanischen Kontinent fort. Die einzig mögliche Lösung bestand darin, die Verwerfung in nördlicher Richtung zu umgehen; das war ein Umweg von tausend Kilometern. Entmutigt setzte ich mich ein paar Minuten lang an den Rand des Abgrunds und ließ die Füße in die Leere baumeln, während die Sonne über den Gipfeln aufstieg; Fox setzte sich neben mich und warf mir fragende Blicke zu. Wenigstens war das Problem der Nahrung für ihn gelöst: Es gab in dieser Gegend zahlreiche Kaninchen, die keinerlei Mißtrauen zeigten, wenn man sich ihnen näherte, und die sich ohne weiteres abschlachten ließen; vermutlich waren ihre natürlichen Feinde seit Generationen ausgestorben. Ich war überrascht, wie schnell Fox den Instinkt seiner ungezähmten Vorfahren wiedergefunden hatte; und auch überrascht darüber, wie sehr er, der nur die Wärme einer Wohnung gewohnt war, es offensichtlich genoß, Höhenluft zu atmen und über grasbedeckte Berghänge zu rennen.
    Das Wetter war mild und manchmal schon heiß; wir überquerten ohne Schwierigkeiten die Gebirgskette der Sierra Nevada über den Ragua-Paß in zweitausend Meter Höhe. In der Ferne konnte man den schneebedeckten Gipfel des Mulhacén erkennen, der die höchste Erhebung der Iberischen Halbinsel gewesen — und es trotz der geologischen Veränderungen noch immer — war.
    Weiter im Norden erstreckte sich ein Gelände mit Hochebenen und Kalksteinhügeln mit zahlreichen Höhlen. Diese hatten in vorgeschichtlicher Zeit den ersten Menschen, die diese Gegend bewohnten, als Behausung gedient; später hatten die letzten Muslime, die von der spanischen Reconquista verjagt worden waren, darin Zuflucht gesucht, ehe die Höhlen im 20. Jahrhundert in Erholungsstätten und Hotels umgewandelt wurden. Ich gewöhnte mir an, mich tagsüber in ihnen auszuruhen und meinen Weg erst bei Einbruch der Nacht fortzusetzen. Am Morgen des dritten Tages entdeckte ich zum ersten Mal Anzeichen, die auf die Gegenwart von Wilden hindeuteten: eine Feuerstelle, Knochen von kleinen Tieren. Sie hatten das Feuer direkt auf dem Fußboden eines der in den Höhlen eingerichteten Zimmer angezündet und den Teppichboden verkohlt, dabei war die Küche des Hotels mit einer Batterie von Glaskeramikherden ausgestattet, doch die Wilden hatten wohl nicht begriffen, wie man damit umgehen mußte. Ich war immer wieder überrascht, daß ein großer Teil der Anlagen, die die Menschen einst errichtet hatten, noch mehrere Jahrhunderte später funktionierten — die Elektrizitätswerke produzierten weiterhin Tausende von Kilowatt, die niemand mehr verbrauchte. Die Höchste Schwester, die allem, was der Menschheit entstammte, äußerst feindlich gesinnt war und einen radikalen Bruch mit der Gattung, die uns vorangegangen war, anstrebte, hatte sehr bald beschlossen, eine autonome Technik in den Enklaven zu entwickeln, die als Siedlungsgebiet für die Neo-Menschen vorgesehen waren und die sie nach und nach den verarmten Nationen abgekauft hatte, die nicht mehr imstande waren, ihr

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