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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Haushaltsdefizit auszugleichen und für die sanitären Bedürfnisse ihrer Bevölkerung Sorge zu tragen. Die von den Menschen erbauten Anlagen wurden sich selbst überlassen; daher war es ausgesprochen bemerkenswert, daß sie noch immer funktionierten. Was auch immer man vom Menschen denken mochte, eines ließ sich nicht leugnen: Er war ein erfinderisches Säugetier gewesen.
    Als ich auf der Höhe des Staudamms von Negratin angekommen war, machte ich kurz halt. Die riesigen Turbinen der Talsperre drehten sich mit verlangsamten Tempo; sie speisten nur noch eine Reihe von Natriumlaternen, die nutzlos die Autobahn von Granada nach Alicante säumten. Die rissige, mit Sand bedeckte Fahrbahn war von Gras und an manchen Stellen von Büschen überwuchert. Ich saß inmitten von verrosteten Metalltischen und Gartenstühlen auf der Terrasse eines ehemaligen Restaurants, von der man einen schönen Blick auf die türkisgrüne Wasserfläche des Stausees hatte, und überraschte mich dabei, wie ich bei dem Gedanken an die Feste, die Banketts, die Familientreffen, die vor vielen Jahrhunderten dort stattgefunden haben müssen, erneut von einer nostalgischen Regung erfüllt wurde. Dabei war mir mehr denn je bewußt, daß die Menschheit es nicht verdiente zu leben und daß das Aussterben dieser Gattung in jeder Hinsicht nur als eine gute Nachricht angesehen werden konnte. Dennoch ging von ihren unvollständigen, halb verfallenen Überbleibseln etwas Schmerzliches aus.
    »Wie lange werden die Bedingungen des Unglücks noch fortbestehen?« fragt sich die Höchste Schwester in ihrer Zweiten Widerlegung des Humanismus. »Sie werden so lange fortbestehen«, antwortet sie sofort darauf, »wie die Frauen Kinder zur Welt bringen.« Keines der Probleme der Menschheit, lehrt die Höchste Schwester, hätte auch nur den Ansatz einer Lösung finden können ohne eine drastische Begrenzung der Bevölkerungsdichte auf der Erde. Eine außerordentliche historische Gelegenheit zu einer vernünftigen Bevölkerungsverminderung hatte sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts geboten, fuhr sie fort, und zwar sowohl in Europa — aufgrund des Geburtenrückgangs — als auch in Afrika — aufgrund von Epidemien und Aids. Doch die Menschheit hatte es vorgezogen, diese Chance nicht wahrzunehmen, indem sie eine massive Einwanderungspolitik betrieb, und trug somit die volle Verantwortung für die ethnischen Konflikte und die Religionskriege, die darauf folgten und die den Auftakt zur Ersten Verringerung bildeten.
    Die lange, verwirrende Geschichte der Ersten Verringerung ist heute nur wenigen Spezialisten bekannt, die sich im wesentlichen auf die monumentale, dreiundzwanzigbändige Geschichte der nördlichen Zivilisationen von Ravensburger und Dickinson stützen. Diesem Werk, das als Informationsquelle unübertroffen bleibt, ist manchmal mangelnde Sorgfalt beim Recherchieren von Fakten vorgeworfen worden; die Kritik richtet sich vor allem dagegen, daß der Horsa-Relation zu viel Platz eingeräumt worden ist, die Penrose zufolge mehr dem literarischen Einfluß der Heldenlieder und der Vorliebe für eine regelmäßige Metrik verdankt als der eigentlichen historischen Wahrheit. Seine Kritik bezieht sich vor allem auf die folgende Passage:
    Die drei Inseln des Nordens sind blockiert vom Eis;
    Die ausgeklügeltsten Theorien suchen keine Übereinstimmung;
    Angeblich ist irgendwo ein See eingestürzt,
    Und die abgestorbenen Kontinente kommen an die Oberfläche.
    Finstere Astrologen durchziehen unsere Provinzen,
    Verkünden die Rückkehr der nordischen Götter;
    Besingen den Ruhm des Alpha Centauri
    Und schwören Gehorsam dem Blut unserer alten Fürsten.
    Diese Passage, so lautet sein Argument, steht in offenem Widerspruch zu dem, was wir über die klimatische Geschichte der Erde wissen. Gründlichere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß der Beginn des Zusammenbruchs der menschlichen Zivilisationen von sehr heftigen und völlig unvorhersehbaren Klimaschwankungen begleitet worden ist. Die Erste Verringerung selbst, also die Eisschmelze, die durch die Explosion zweier Thermonuklearbomben auf dem Nord- und Südpol hervorgerufen wurde und dafür verantwortlich war, daß der gesamte asiatische Kontinent mit Ausnahme Tibets unter der Meeresoberfläche verschwand und dabei die Bevölkerungszahl der Erde durch zwanzig geteilt wurde, setzte erst hundert Jahre später ein.
    Andere Arbeiten haben hervorgehoben, daß im Verlauf dieser unruhigen Zeit zahlreiche Elemente verschiedener

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