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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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das im Grunde gar nicht bedauerte.
    Ich erreichte das Dorf Alarcón kurz nach Einbruch der Dunkelheit; der Mond spiegelte sich im Wasser des Sees, dessen Oberfläche sich leicht kräuselte. Als ich auf der Höhe der ersten Häuser ankam, erstarrte Fox plötzlich und knurrte leise. Ich blieb stehen; ich vernahm kein Geräusch, vertraute aber seinem Gehör, das schärfer war als meins. Wolken zogen vor dem Mond vorbei, und ich hörte rechts von mir ein leises Scharren; als das Licht wieder heller wurde, sah ich, wie eine menschliche Silhouette, die mir gebeugt und mißgestaltet vorkam, zwischen zwei Häusern hindurchschlich. Ich hielt Fox zurück, der ihr nachrennen wollte, und ging weiter die Hauptstraße hinauf. Vielleicht war das unvorsichtig von mir, aber alle, die Kontakt zu den Wilden gehabt hatten, sagten übereinstimmend aus, daß sie panische Angst vor den Neo-Menschen hätten und sogleich die Flucht ergriffen.
    Das Kastell von Alarcón war im 12. Jahrhundert erbaut und im 20. Jahrhundert in einen Parador umgewandelt worden, wie ich einem für Touristen angebrachten Schild mit verwitterten Buchstaben entnahm; die Burg hatte eine beeindruckend massige Form, überragte das Dorf und ermöglichte bestimmt, die Umgebung in einem Umkreis von mehreren Kilometern zu überwachen. Ich beschloß, dort oben die Nacht zu verbringen, ohne mich von den Geräuschen und den Silhouetten beirren zu lassen, die in der Dunkelheit fortrannten. Fox knurrte unentwegt, bis ich ihn auf den Arm nahm, um ihn zu beruhigen; ich war immer mehr davon überzeugt, daß die Wilden jede Auseinandersetzung vermeiden würden, wenn ich nur genug Lärm machte, um sie vor meinem Kommen zu warnen.
    Dem Inneren der Burg war anzusehen, daß sie bis vor kurzem bewohnt worden war; in dem großen Kamin brannte sogar noch ein Feuer, und daneben lag ein Stapel Holz; wenigstens hatten sie dieses Geheimnis nicht verloren, das zu den ältesten menschlichen Erfindungen gehörte. Nachdem ich kurz die Zimmer in Augenschein genommen hatte, war mir klar, daß das so ziemlich alles war, was man ihnen zugute halten konnte: Die Benutzung des Gebäudes durch die Wilden drückte sich vor allem durch Unordnung, Gestank und getrocknete Exkrementhaufen auf dem Boden aus. Kein Anzeichen für eine geistige, intellektuelle oder künstlerische Tätigkeit war zu sehen; das entsprach der Schlußfolgerung der wenigen Forscher, die sich mit der Geschichte der Wilden beschäftigt hatten: Da ihnen jede Form von kultureller Vermittlung fehlte, war der Zusammenbruch mit rasender Geschwindigkeit erfolgt.
    Die dicken Mauern bewahrten sehr gut die Wärme, und ich beschloß, mein Lager im großen Saal zu errichten, und begnügte mich damit, eine Matratze vors Feuer zu ziehen; in einer Kammer entdeckte ich einen Stapel sauberer Bettwäsche. Ich fand auch zwei Mehrladegewehre, einen beeindruckenden Vorrat an Patronen sowie eine vollständige Ausrüstung, um die Waffen zu reinigen und zu ölen. Die hügelige, bewaldete Umgebung muß zur Zeit der Menschen sehr wildreich gewesen sein; ich wußte nicht, wie es jetzt damit stand, aber in den ersten Wochen meiner Wanderung hatte ich festgestellt, daß zumindest einige Tierarten die Aufeinanderfolge von Flutwellen und extremen Dürreperioden, die radioaktiven Wolken, die Vergiftung der Wasserläufe und alle sonstigen Naturkatastrophen überlebt hatten, die den Erdball im Laufe der letzten zwei Jahrtausende verwüstet hatten. In den letzten Jahrhunderten der menschlichen Zivilisation — eine wenig bekannte, aber bedeutsame Tatsache — waren in Westeuropa Bewegungen entstanden, die sich auf eine seltsam masochistische Ideologie namens »Ökologie« beriefen, auch wenn sie nur wenig mit der gleichnamigen Wissenschaft zu tun hatte. Diese Bewegungen hoben die Notwendigkeit hervor, die »Natur« vor dem menschlichen Eingriff zu schützen, und vertraten den Gedanken, daß alle Arten von Lebewesen, ganz gleich wie hoch sie entwickelt waren, das gleiche »Recht« hatten, die Erde zu bewohnen; manche Anhänger dieser Bewegungen schienen sich sogar, wenn man die Sache objektiv betrachtete, systematisch für die Tiere und gegen den Menschen einzusetzen und das Aussterben einer Tierart von Wirbellosen stärker zu bedauern als eine Hungersnot, die die Bevölkerung eines ganzen Kontinents vernichtete. Wir haben heute Schwierigkeiten, diese Begriffe »Natur« und »Recht« zu begreifen, die sie so leichtfertig benutzten, und wir sehen in diesen Ideologien der

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