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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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so weit von hier, auf der anderen Seite des Atlantiks, auf den Weg zu machen. Auch ich hatte einen ebenso unsicheren Weg eingeschlagen, aber mir war es inzwischen gleichgültig, ob ich mein Ziel erreichte oder nicht: Im Grunde wollte ich nur weiter mit Fox über Wiesen und Berge laufen, im Freien erwachen, in eisigen Flüssen baden, mich von der Sonne trocknen lassen und Abende mit ihm vorm Feuer im Sternenlicht verbringen. Ich hatte die Unschuld wiederentdeckt, einen konfliktlosen Zustand ohne Bedingungen, hatte weder Plan noch Ziel, und mein individuelles Sein verlor sich in einer unbestimmten Reihe von Tagen; ich war glücklich.
    Nach der Sierra de Segura erreichten wir die Sierra de Alcaraz, die nicht ganz so hoch ist; ich hatte es aufgegeben, die genaue Anzahl unserer Tagesmärsche zu zählen, aber ich glaube, daß es etwa Anfang August war, als wir in Sichtweite von Albacete ankamen. Es herrschte drückende Hitze; ich hatte mich inzwischen weit vom Verlauf der großen Verwerfung entfernt, wenn ich mir ihr wieder nähern wollte, mußte ich mich direkt nach Westen wenden und gut zweihundert Kilometer über die Hochplateaus von La Mancha laufen, wo ich weder Vegetation noch einen Unterschlupf finden würde. Ich konnte auch nach Norden abbiegen, um die bewaldeten Gebiete rings um Cuenca zu erreichen, und dann durch Katalonien gehen, bis ich zu den Pyrenäen kam.
    Nie zuvor in meinem neo-menschlichen Dasein hatte ich eine Entscheidung treffen oder eine Initiative ergreifen müssen, das war mir etwas völlig Fremdes. Die individuelle Initiative, lehrt die Höchste Schwester in ihren Anweisungen für ein friedliches Leben, ist die Triebfeder des Willens, der Anhänglichkeit und des Begehrens; daher haben sich die Sieben Gründer im Anschluß an sie bemüht, einen vollständigen Katalog aller vorstellbaren Lebenssituationen zu erstellen. Ihr erstes Ziel bestand natürlich darin, Geld und Sex aus der Welt zu schaffen, zwei Faktoren, deren schädliche Auswirkungen sie allen menschlichen Lebensberichten entnehmen konnten; darüber hinaus ging es darum, jegliche Vorstellung von politischer Wahlentscheidung auszumerzen, die, wie sie schrieben, »gekünstelte, aber heftige« Leidenschaften auslöste. Diese Vorbedingungen negativer Art waren zwar unerläßlich, reichten in ihren Augen aber nicht aus, um der Neo-Menschheit einen Zugang zu der »eindeutigen Neutralität der Wirklichkeit« zu ermöglichen, wie sie sich häufig ausdrückten; daher war es erforderlich, außerdem eine Liste konkreter positiver Vorschriften aufzustellen. Das individuelle Verhalten, schreiben sie in ihren Prolegomena zur Errichtung von Central City (das erste neo-menschliche Werk, ein Buch, das bezeichnenderweise ohne Nennung der Verfassernamen erschien), sollte ebenso »vorhersehbar sein wie das Funktionieren eines Kühlschranks«. Sie geben im übrigen zu, daß sie sich beim Verfassen der Anweisungen stilistisch nicht so sehr von den literarischen Produkten der Menschheit haben anregen lassen, sondern eher von »Bedienungsanleitungen für Elektrogeräte mittlerer Größe und Komplexität, insbesondere von jener für den Videorecorder JVC HR-DV3S/MS«. Die Neo-Menschen, erklären sie ohne Umschweife, können wie alle Menschen als vernunftbegabte Säugetiere von mittlerer Größe und Komplexität angesehen werden; daher ist es durchaus möglich, im Rahmen eines stabilisierten Lebens ein vollständiges Register der Verhaltensmuster zu erstellen.
    Dadurch daß ich die Wege eines registrierten Lebens verlassen hatte, hatte ich mich ebenfalls von jedem anwendbaren Schema entfernt. Und während ich so auf der Kuppe eines Kalksteinhügels in der Hocke saß und die endlose weiße Ebene betrachtete, die sich zu meinen Füßen erstreckte, entdeckte ich innerhalb weniger Minuten die Qualen der persönlichen Entscheidung. Ich begriff auch — und nunmehr ein für allemal —, daß ich nicht oder nicht mehr den Wunsch hegte, mich irgendeiner Gemeinschaft von Primaten anzuschließen — falls ich diesen Wunsch überhaupt je gehegt hatte. Ohne wirklich zu zögern, wie unter dem Druck einer ungleichmäßig verteilten Last, die einen zur Seite zieht, beschloß ich, nach Norden abzubiegen. Als ich kurz hinter La Roda die Wälder und die glitzernde Wasserfläche des Staudamms von Alarcón erblickte, während Fox fröhlich an meiner Seite trottete, wurde mir klar, daß ich Marie23 nie begegnen würde und auch keiner anderen Frau des Neo-Menschengeschlechts und daß ich

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