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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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körperliche Verfall und die Verunstaltung alter Menschen allgemein Abscheu hervor. Offensichtlich war der Hitzesommer im Jahre 2003, der besonders in Frankreich zahlreiche Todesopfer forderte, der Auslöser dafür, daß dieses Problem ins Bewußtsein der Öffentlichkeit drang. »Die Demo der Greise« lautete die Schlagzeile in Liberation, nachdem die ersten Zahlen bekannt wurden — mehr als zehntausend Menschen waren innerhalb von zwei Wochen in Frankreich gestorben; allein in ihrer Wohnung, im Krankenhaus oder im Altenheim, und zwar alle wegen unzureichender Pflege. In den darauffolgenden Wochen veröffentlichte dieselbe Zeitung eine Reihe von grauenerregenden Reportagen mit Fotos, die aus einem KZ zu stammen schienen, Reportagen, in denen die Todesqualen von Greisen beschrieben wurden, die nackt oder in Windeln in Gemeinschaftssälen lagen und den ganzen Tag stöhnten, ohne daß ihnen jemand etwas zu trinken reichte oder auf irgendeine Weise Wasser zuführte; und sie beschrieben, wie die Krankenschwestern, die vergeblich versucht hatten, die in Ferien gefahrenen Familien zu benachrichtigen, die Toten einsammelten, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. »Szenen, die eines modernen Landes unwürdig sind«, schrieb der Journalist, ohne sich dabei klarzumachen, daß sie der beste Beweis für die Modernität Frankreichs waren, denn nur ein wirklich modernes Land war imstande, Greise wie bloßen Müll zu behandeln; in Afrika oder in einem traditionsverbundenen Land Asiens wäre eine solche Mißachtung alter Menschen unvorstellbar.
    Die konventionelle Entrüstung, die diese Bilder hervorriefen, legte sich schnell, und die Durchsetzung der Euthanasie — es handelte sich immer öfter um aktive Sterbehilfe — sollte in den darauffolgenden Jahrzehnten das Problem lösen.
    Den Menschen würde empfohlen, möglichst einen vollendeten Lebensbericht abzulegen, weil zu jener Zeit der Glaube weit verbreitet war, die Menschen könnten in den letzten Minuten ihres Lebens so etwas wie eine Erleuchtung haben. Das von den Betreuern am häufigsten zitierte Beispiel dafür war Marcel Proust, der sich, als er das Nahen des Todes spürte, sogleich auf das Manuskript von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit stürzte, um seine Eindrücke von seinem allmählichen Hinscheiden festzuhalten.
    Doch in der Praxis hatten nur wenige den Mut dazu.
     
     

Daniel1,8
    »Barnabé, im Grunde brauchten wir
    ein leistungsfähiges Raumschiff mit einer
    Schubkraft von dreihunderttausend
    Tonnen. Dann könnten wir der
    Erdanziehungskraft entkommen und
    zwischen den Jupitermonden navigieren.«
    Captain Clark
    Vorbereitung, Dreharbeiten, Nachproduktion und eine begrenzte Werbereise (Zwei Fliegen später war gleichzeitig in den meisten europäischen Hauptstädten herausgekommen, aber ich beschränkte mich auf Frankreich und Deutschland): Insgesamt war ich über ein Jahr lang fort gewesen. Die erste Überraschung erwartete mich auf dem Flughafen von Almeria: Eine Gruppe von etwa fünfzig Leuten, die dicht gedrängt hinter der Absperrung in der Ankunftshalle stand, schwenkte Terminkalender, T-Shirts und Filmplakate durch die Luft. Nachdem ich die ersten Zahlen erfahren hatte, wußte ich schon, daß der Film, der in Paris mehr oder weniger ignoriert worden war, in Madrid — sowie in London, Rom und Berlin übrigens — Stürme der Begeisterung ausgelöst hatte; ich war in Europa zu einem Star geworden.
    Nachdem die Gruppe auseinandergegangen war, entdeckte ich Isabelle, die hinten in der Halle auf einer Bank saß. Und auch das war ein Schock. Sie trug eine weite Hose und ein zerknittertes T-Shirt und blickte in einer Mischung aus Angst und Scham in meine Richtung. Als ich nur noch ein paar Meter von ihr entfernt war, begann sie zu weinen, die Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie versuchte sie nicht einmal zu trocknen. Sie hatte mindestens vierzig Pfund zugenommen. Diesmal war auch ihr Gesicht nicht davon verschont geblieben: aufgeschwemmt und mit geplatzten Äderchen, das Haar fettig und wirr, kurz gesagt, sie sah furchtbar aus.
    Fox war natürlich außer sich vor Freude, machte Luftsprünge und leckte mir mindestens eine Viertelstunde lang das Gesicht ab; ich spürte jedoch, daß mich noch mehr erwartete. Sie weigerte sich, sich in meiner Gegenwart auszuziehen, und tauchte in einem wattierten Trainingsanzug wieder auf, den sie zum Schlafen trug. In dem Taxi, mit dem wir vom Flughafen nach Hause gefahren waren, hatten wir kein Wort

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