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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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der Steilküste ins Meer gestürzt.
    Ich sah Harry wieder, es ging ihm gut; Truman dagegen war mit einem Schlag alt geworden. Wir wurden wieder zum Abendessen eingeladen, diesmal zusammen mit einem belgischen Ehepaar, das sich vor kurzem in der Nähe ein Haus gekauft hatte. Harry stellte mir den Mann als einen belgischen Philosophen vor. In Wirklichkeit war er, nachdem er in Philosophie promoviert hatte, in den öffentlichen Dienst gegangen und hatte ein eintöniges Leben als Finanzbeamter geführt (eine Laufbahn, die er übrigens aus Überzeugung eingeschlagen hatte, denn er stand den Sozialisten nahe und glaubte daran, daß hohe Steuern sich positiv auswirkten). Er hatte hier und dort ein paar philosophische Artikel in materialistisch orientierten Zeitschriften veröffentlicht. Seine Frau, eine gnomenhafte Erscheinung mit kurzem weißen Haar, hatte auch ihr ganzes Leben bei der Finanzaufsichtsbehörde verbracht. Seltsamerweise glaubte sie an Astrologie und bestand darauf, mein Horoskop zu erstellen. Ich war Fisch, Aszendent Zwillinge, aber von mir aus hätte ich genausogut Pudel, Aszendent Planierraupe sein können, ha, ha, ha. Diese geistreiche Bemerkung brachte mir die Anerkennung des Philosophen ein, der gern über die Marotten seiner Frau lächelte — sie waren seit dreiunddreißig Jahren verheiratet. Er selbst hatte immer den Obskurantismus in allen seinen Formen bekämpft; er stammte aus einer streng katholischen Familie, und das war, wie er mir mit leicht zitternder Stimme versicherte, ein großes Handikap für seine sexuelle Entwicklung gewesen. »Was sind das bloß für Leute? Was sind das für Leute?« sagte ich immer wieder zu mir selbst, während ich verzweifelt in meinen Heringen herumstocherte (Harry deckte sich damit in einem deutschen Supermarkt in Almeria ein, wenn er Heimweh nach Mecklenburg verspürte, wo er geboren war). Diese beiden Gnome hatten ganz offensichtlich kein Sexualleben gehabt, oder es hatte sich darauf beschränkt, ein Kind zu zeugen (wie ich später feststellen sollte, hatten sie tatsächlich einen Sohn); sie gehörten einfach zu den Leuten, die keinen Zugang zur Sexualität haben. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich zu entrüsten, den Papst zu kritisieren und sich über die Verbreitung von Aids zu beklagen, obwohl sie ganz bestimmt keine Gelegenheit gehabt hatten, sich anzustecken; all das rief in mir den leisen Wunsch zu sterben hervor, doch ich hielt mich zurück.
    Zum Glück schaltete sich Harry ein, und die Unterhaltung nahm eine Wendung zum Transzendenten (die Sterne, das Unendliche usw.), was mir erlaubte, mich ohne zu zittern über meine Würstchen herzumachen. Selbstverständlich waren sich der Materialist und der Teilhard-de-Chardin-Anhänger auch hier nicht einig (in diesem Augenblick wurde mir klar, daß sie wohl häufig zusammenkamen und dieser Meinungsaustausch ihnen offensichtlich Spaß machte, das könnte bestimmt noch dreißig Jahre ohne nennenswerte Veränderung zu ihrer gegenseitigen Befriedigung so weitergehen). Dann kamen wir auf den Tod zu sprechen. Robert der Belgier, der sein ganzes Leben lang für die sexuelle Befreiung gekämpft hatte, die er selbst nie kennengelernt hatte, setzte sich jetzt für die Euthanasie ein — mit der er allerdings höchstwahrscheinlich Bekanntschaft machen würde. »Und die Seele? Und die Seele?« fragte Harry keuchend. Ihre Nummer war durchaus gut eingeübt; Truman schlief etwa im gleichen Augenblick ein wie ich.
    Als Hildegard Harfe spielte, waren wir uns wieder alle einig. O ja, die Musik; vor allem, wenn sie leise ist. All das reichte nicht einmal aus, um daraus einen Sketch zu machen, sagte ich mir. Ich konnte nicht mehr über diese einfältigen Kämpfer für die Unmoral lachen und über Sprüche wie diesen: »Tugend ist doch wirklich was Schönes, wenn man sich das Laster leisten kann«, nein, es ging einfach nicht mehr. Ich konnte auch nicht mehr über die Verbitterung von unter Cellulitis leidenden Frauen um die Fünfzig mit ihrem unerfüllten Wunsch nach leidenschaftlicher Liebe lachen; und nicht über das behinderte Kind, das sie schließlich mit einem autistischen Mann zeugten, den sie halb vergewaltigt hatten (»David ist mein Sonnenschein«). Kurz gesagt, ich konnte über fast gar nichts mehr lachen; meine Karriere war im Eimer, das war klar.
    Als wir an jenem Abend über die Dünen nach Hause gingen, machten wir nicht halt, um uns zu lieben. Dennoch mußte die Sache irgendwie zu Ende gebracht werden, und ein

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