Die Mglichkeit einer Insel
Disneynachmittag im Marineland in Bonifacio erobert hat.
»Was, du wohnst ja mitten in einer Kurve«, rief das Mädchen frech, »dafür brauchst du doch nicht nach Korsika zu kommen …«
»Wenn man zusehen kann, wie Autos vorbeifahren«, erwiderte er (erwiderte ich), »dann ist das schon ein Stückchen Leben.«
Niemand lachte; weder bei der Testvorführung mit Publikum noch bei der Premiere und auch nicht beim Festival für Leinwandkomik in Montbazon. Und doch, sagte ich mir, und doch habe ich mich nie zuvor in solche Höhen aufgeschwungen. Hätte Shakespeare etwa so einen Dialog schreiben können? Hätte er ihn sich überhaupt vorstellen können, der traurige Klotz?
Über das abgedroschene Thema der Pädophilie hinaus (und ähnlich abgefuckte Themen, ha, ha, ha — so drückte ich mich damals in meinen Interviews aus) versteht sich dieser Film als ein aufrüttelndes Manifest gegen die Freundschaft und ganz allgemein gegen alle nicht-sexuellen Beziehungen. Worüber sollen zwei Männer ab einem gewissen Alter schon diskutieren? Welchen Grund könnten zwei Männer schon haben beisammenzusein, es sei denn es besteht zwischen ihnen ein Interessenkonflikt oder sie planen irgendeine gemeinsame Sache (den Umsturz einer Regierung, den Bau einer Autobahn, das Drehbuch für einen Comic-Strip, die Vernichtung der Juden)? Ab einem gewissen Alter (ich spreche von Männern, die ein gewisses geistiges Niveau besitzen, und nicht von abgewrackten Brutalos) ist ohne jeden Zweifel alles gesagt. Wie sollte ein so ödes Vorhaben wie das, eine Weile zusammen zu verbringen, bei zwei Männern schon zu etwas anderem führen als Langeweile, Betretenheit und letztlich offener Feindschaft? Während zwischen einem Mann und einer Frau trotz allem noch etwas bestehen blieb: eine leichte Anziehung, eine kleine Hoffnung, ein kleiner Traum. Worte waren von jeher für Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten bestimmt, dieser kriegerische Ursprung haftete ihnen auch weiterhin an. Worte zerstören, trennen, und wenn zwischen einem Mann und einer Frau nichts anderes als das mehr besteht, kann man die Beziehung zu Recht als beendet betrachten. Wenn Worte dagegen von Liebkosungen begleitet, besänftigt und sozusagen geheiligt werden, können sie eine andere Bedeutung bekommen, die längst nicht so dramatisch, aber tiefergehend ist, dann können sie zu einem uninteressierten freien geistigen Austausch ohne direkte Verwertung werden.
Dieser Film griff nicht nur die Freundschaft, sondern alle gesellschaftlichen Beziehungen an, die nicht von Körperkontakt begleitet waren, und stellte indirekt — wie nur die Zeitschrift Slut Zone zutreffend bemerkte — eine Apologie der Bisexualität, wenn nicht gar des Hermaphrodismus dar. Kurz gesagt, ich knüpfte wieder an die alten Griechen an. Wenn man älter wird, knüpft man immer an die alten Griechen an.
Daniel24,7
Es gibt 6174 Lebensberichte, das entspricht der Kaprekar-Konstante. Ganz gleich, ob sie von Männern oder von Frauen, aus Europa oder Asien, aus Amerika oder Afrika stammen, ob die Berichte vollendet oder unvollendet sind, alle stimmen sie in einem und übrigens nur in einem Punkt überein, und zwar darin, wie unerträglich der moralische Schmerz des Alterns ist.
Brunol verdeutlicht es in seiner knappen, schonungslosen Formulierung wohl am deutlichsten, wenn er schreibt, daß »sein Körper eines alten Mannes voller jugendlichem Begehren« sei; aber alle Zeugnisse stimmen wie gesagt überein, sowohl das von Daniel1, meinem Vorgänger aus fernen Zeiten, wie das von Rachidl, Pauli, Johnl, Felicitel oder der herzzerreißende Bericht von Esperanzal. Das Altern scheint in keiner Phase der Geschichte der Menschen etwas Angenehmes gewesen zu sein, doch in den Jahren, die dem Verschwinden der Menschheit vorausgingen, war dieser Prozeß offensichtlich so unerträglich geworden, daß die Rate derer, die sich das Leben nahmen, was die Gesundheitsbehörde mit dem schamhaften Begriff »freiwilliger Abschied« bezeichnete, fast 100% erreichte und das Durchschnittsalter der freiwillig Abschiednehmenden auf sechzig Jahre in bezug auf den gesamten Erdball und auf etwa fünfzig in den hochentwickelten Ländern geschätzt wurde.
Diese Zahlen waren das Ergebnis einer langwährenden Entwicklung, die zur Zeit von Daniel1, in der das durchschnittliche Sterbealter noch viel höher und der Selbstmord alter Menschen relativ selten war, gerade erst begonnen hatte. Doch schon damals riefen der
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