Die Mglichkeit einer Insel
oder etwas feinsinnigere Dinge im Stil von Broodthaers, wo es darum geht, Unbehagen und Scham bei dem Zuschauer, dem Künstler oder bei beiden hervorzurufen, indem man ein miserables, jämmerliches Schauspiel aufführt, bei dem man sich ständig fragen muß, ob es irgendeinen künstlerischen Wert hat; es gibt auch eine Richtung, die sich mit Kitsch beschäftigt, sich ihm annähert, ihn streift und ihn manchmal sogar kurz erreicht, aber natürlich nur unter der Bedingung, daß ein Metatext zu erkennen gibt, daß man die Sache durchschaut. Und dann gibt es eine dritte Tendenz, das ist die Arbeit mit dem Virtuellen: Häufig sind es junge Leute, die von Mangas und Heroic-Fantasy-Filmen beeinflußt worden sind; viele fangen so an und ziehen sich dann auf die erste Tendenz zurück, nachdem sie gemerkt haben, daß man vom Internet nicht leben kann.«
»Ich nehme an, daß du dich keiner dieser drei Tendenzen zurechnest.«
»Ich mag Kitsch zuweilen ganz gern, ich habe nicht unbedingt ein Bedürfnis, mich darüber lustig zu machen.«
»Die Elohimiten gehen da ein bißchen weiter, oder?«
Er lächelte. »Weißt du, der Prophet geht ganz naiv damit um, das hat nichts Ironisches, das ist viel gesünder …« Mir fiel auf, daß er das Wort »Prophet« ganz natürlich ausgesprochen hatte, ohne daß sich seine Stimme dabei irgendwie verändert hätte. Glaubte er wirklich an die Elohim? Seine Abscheu vor der malerischen Produktion des Propheten müßte ihm doch eigentlich etwas peinlich sein; irgend etwas an diesem Mann entging mir, ich mußte sehr aufpassen, wenn ich ihn nicht vor den Kopf stoßen wollte; ich bestellte mir ein weiteres Bier.
»Im Grunde gibt es nur graduelle Unterschiede«, fuhr er fort. »Wenn man so will, ist alles Kitsch. Die ganze Musik ist Kitsch; Kunst ist Kitsch, Literatur ist Kitsch. Jede Emotion ist fast zwangsläufig Kitsch; und auch Gedanken sind Kitsch und in gewisser Weise sogar alle Handlungen. Das einzige, was absolut kein Kitsch ist, ist das Nichts.«
Er ließ mir ein bißchen Zeit, um über seine Worte nachzudenken, ehe er fortfuhr: »Hättest du Lust, dir anzusehen, was ich mache?«
Ich nahm die Einladung natürlich an. Am darauffolgenden Sonntag war ich am frühen Nachmittag bei ihm. Er wohnte in einem Einfamilienhaus in Chevilly-Larue, mitten in einem Gelände, das sich gerade in der Phase eines »schöpferischen Zerstörungsprozesses« befand, wie Schumpeter gesagt hätte: schlammige, verwahrloste Grundstücke mit Kränen und Bauzäunen, soweit das Auge reichte; ein paar halbfertige Wohnblocks und andere, von denen erst die Grundmauern existierten. Sein aus Kalkstein erbautes Haus, das vermutlich aus den dreißiger Jahren stammte, war das einzige aus dieser Zeit, das nicht dem Abriß zum Opfer gefallen war. Er trat vor die Tür, um mich zu begrüßen. »Das ist das Haus meiner Großeltern …«, sagte er. »Meine Großmutter ist vor fünf Jahren gestorben und mein Großvater drei Monate später. Ich glaube, er ist vor Kummer gestorben — es hat mich sogar überrascht, daß er überhaupt drei Monate durchgehalten hat.«
Als ich das Eßzimmer betrat, bekam ich fast einen Schock. Im Gegensatz zu dem, was ich in zahlreichen Interviews zum Besten gegeben hatte, entstammte ich nicht der Arbeiterklasse; mein Vater hatte bereits die erste und schwierigste Hälfte des sozialen Aufstiegs geschafft — er hatte es bis zum leitenden Angestellten gebracht. Trotzdem kannte ich die Arbeiterklasse, während meiner ganzen Kindheit hatte ich bei meinen Onkeln und Tanten Gelegenheit genug gehabt, mich mit ihr vertraut zu machen: Ich kannte ihren Sinn für die Familie, ihre kindische Sentimentalität, ihre Vorliebe für Alpenbilder in knalligen Farben und ihre in Kunstleder gebundenen Sammlungen großer Schriftsteller. All das fand ich in Vincents Haus wieder, sogar die gerahmten Fotos und den grünen Samtbezug für das Telefon; er hatte seit dem Tod seiner Großeltern offensichtlich nicht die geringste Veränderung vorgenommen.
Etwas befangen ließ ich mich zu einem Sessel führen, ehe ich an der Wand das einzige Dekorationselement entdeckte, das wohl nicht aus dem letzten Jahrhundert stammte: ein Foto von Vincent, neben einem großen Fernseher sitzend. Auf einem niedrigen Tisch vor ihm standen zwei ziemlich grob gefertigte Skulpturen, die fast wirkten, als habe sie ein Kind gemacht, und die einen Brotlaib und einen Fisch darstellten. Auf dem Fernseher war in großen Lettern zu lesen: »Gebt den Menschen
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